Medien-Ereignis Olympia:Mein lieber Herr Gesangsverein

Der Sender Eurosport zeigt keinen neumodischen Kram wie Beachvolleyball, sondern hat eine eigentümliche Liebe zum Gewichtheben. Und zur Leichtathletik. Dann laufen die Kommentatoren Dirk Thiele und Sigi Heinrich sich so richtig warm, vor Phrasen schrecken sie nicht zurück - doch das macht gar nichts.

Gökalp Babayigit

Der Sender Eurosport ist während Olympia das, was man Neudeutsch als Old School bezeichnen könnte. Eurosport verzichtet auf ein Studio mit orangefarbener Sitzgarnitur. Eurosport braucht keine lustige Glosse (anders als das Erste, das den ratlos zurücklassenden "Goldrausch" im Programm hat). Eurosport ist im frei empfangbaren Fernsehen auch nicht in HD zu sehen. No frills, würde der Brite sagen. Ohne Schnickschnack. Ohne Schnickschnack zwar, aber gern mit Schrulligkeiten.

Sigi Heinrich, Dirk Thiele

Haben 2008 den Deutschen Fernsehpreis gewonnen für ihre Berichterstattung von den Pekinger Spielen: Die Kommentatoren Sigi Heinrich (re.) und Dirk Thiele.

(Foto: AP)

So verzichtet Eurosport Montagnacht schon mal auf das K.-o.-Match der deutschen Beachvolleyballer Julius Brink und Jonas Reckermann gegen die favorisierten Brasilianer (die Deutschen haben gewonnen), um die Entscheidung im Gewichtheben bis 105 Kilogramm zu zeigen (ein Ukrainer hat gewonnen). Und die war nicht einmal live.

Eurosport hat eine eigentümliche Liebe zum Gewichtheben. Eine Sportart, die schon 1896 bei Olympia im Programm war. Nicht neumodischer Kram wie Beachvolleyball. Alte Schule eben.

Zu Kommentatoren der alten Schule gehören auch Dirk Thiele und Sigi Heinrich. Der Preuße und der Bayer führen - gern mit Schrulligkeiten - nun schon seit 20 Jahren durch alle Leichtathletikwettkämpfe, und derer gab es sehr viele auf dem leichtathletikaffinen Sender. Thiele und Heinrich haben den Deutschen Fernsehpreis gewonnen für ihre Berichterstattung von den Pekinger Spielen 2008. Wenn man sich mit der bisherigen Berichterstattung von ARD/ZDF und Eurosport beschäftigt hat, kann man sagen, dass sie dieses Jahr wieder Medaillenkandidaten sind.

Thiele und Heinrich kennen alle, wirklich alle Reporterphrasen und haben keine Hemmungen, sich aus dem reichhaltigen Fundus auch zu bedienen. Das soll keineswegs despektierlich klingen. Wir behaupten sogar, dass sie eben diesen Fundus in den vergangenen 20 Jahren mit befüllt haben.

Beispiel: Thiele, beim dritten gelungenen Versuch der britischen Stabhochspringerin Holly Bleasedale: "Ein Befreiungsschrei aus sechzig-, siebzigtausend Kehlen (die Zuschauer, Anm. d. Red.). Mein lieber Herr Gesangsverein. Das wäre ein Schlag ins Kontor, ein Sprung ins eiskalte Wasser gewesen, wenn sie hier die Anfangshöhe nicht geschafft hätte." Das hat er wirklich gesagt. In dieser Reihenfolge.

Doch Thiele und Heinrich auf die Redewendungen zu beschränken, würde viel zu kurz greifen. Denn hinter den Sprüchen verbergen sich Dinge, die sie so manchen Sportreporterkollegen im deutschen Fernsehen voraushaben.

Zum Beispiel ihre große Liebe zum Sport. Sie lieben die Leichtathletik, sie kennen die Historie - da wird schon mal Ed Moses erwähnt, Carl Lewis ist eh allgegenwärtig -, sie kennen die persönlichen Bestzeiten aller kenianischen Läuferinnen. Sie wissen sogar, wann der 400-Meter-Hürdenläufer aus der Dominikanischen Republik morgens aufsteht (um fünf Uhr). Diese Begeisterung für den Sport, man kann sie nicht spielen oder schulen.

Das Ehepaar will aufhören

Wenn Heinrich mit dem Startschuss des 400-Meter-Hürdenfinales seine Stimme in den Livemodus schaltet, sind das knappe 48 Sekunden Dramatik, und ist das nach dem Zieleinlauf echte Begeisterung über den Sieger: "Was für ein RIE-SEN-ERFOLG für den Mann aus der Dominikanischen Republik! Was dieser Felix Sanchez hier gezeigt hat, das ist PHÄ-NO-ME-NAL! Er ist einer der größten Leichtathleten, er hat es noch mal deutlich unterstrichen. Felix Sanchez ist einer der ganz ganz Großen für mich."

Sie reden nicht um den heißen Brei herum. Wenn die deutsche 3000-Meter-Läuferin während des Rennens nur Zwölfte ist, ist sie bei Thiele nicht Zwölfte, sondern Drittletzte. Wenn die deutsche Stabhochspringerin einen offensichtlich kläglichen Versuch abliefert, ist sie nicht "knapp gescheitert" oder "im Pech", sondern hatte - ganz schnöde - einfach "KEI-NE Chance, keine Chance". Dirk Thiele hat jüngst in einem Interview gesagt, das meiste, was die beiden kommentierten, komme ganz spontan. In solchen Augenblicken will man es ihm am ehesten glauben.

Ihnen ist Pathos nicht fremd (siehe Sanchez), aber sie zügeln das deutsch gefärbte Pathos, und zwar in beide Richtungen: Weder sind die Erfolge der deutschen Athleten Anlass für ausgelassenstes Feiern - Thiele und Heinrich freuen sich international, zum Beispiel auch mit Weißrussinnen. Noch ist ihr Scheitern Grund für atemlose Enttäuschung - Thiele und Heinrich schelten auch international, zum Beispiel auch Weißrussinnen (Thiele: "Die Weißrussin darf sich aus meiner Sicht ruhig mal ein bisschen freuen. Man wird ja schließlich nicht jeden Tag Olympiasieger. Aber sie nimmt das hin, als wenn sie gerade 'n Stück Brot isst")

Klar, sie vergaloppieren sich auch. Immer wieder. Heinrich hat Aussagen zu Oscar Pistorius getroffen, die für manche irritierend waren (nachzulesen ist das in seinem Blog). Man kann darüber diskutieren, ob und wie fair es ist, wenn ein Mann mit Prothesen bei Olympia mitläuft. Man könnte dabei aber auch Vergleiche mit Rollstuhlfahrern mit Raketenantrieb weglassen.

Thiele wiederum hat es am Montagabend geschafft, in einem Halbsatz die Oberweiten der 3000-Meter-Hindernisläuferinnen mit dem Zieleinlauf in den Kontext zu bringen. In solchen Augenblicken glaubt man ihm dann endgültig, dass das Meiste spontan kommt.

Dirk Thiele ist schon sehr lange dabei. Er war vor London schon 13 Mal bei Olympischen Spielen, sieben Mal Sommer, sechs Mal Winter. Es sollen nun seine letzten Spiele sein, hat er angekündigt. Was dann aus Sigi Heinrich wird? Man weiß es nicht. Die beiden sehen sich wie ein altes Ehepaar. Man kann sich irgendwie nicht vorstellen, dass sie aufhören. Hört man sich an, zu welchen Albernheiten sie sich gegenseitig immer noch treiben, denkt man: Sie haben doch noch Spaß an dem, was sie tun.

Sie sind Teil der Leichtathletik im deutschen Fernsehen. Seit 20 Jahren. Vielleicht trifft für sie auch zu, was Thiele über den japanischen Hammerwerfer Koji Murofushi gesagt hat: "Solange er das Kreuz nicht am Bindfaden durch die Gegend tragen muss, macht er weiter."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: