MDR-Dokumentation:In der Wessitasche

MDR Wer beherrscht den Osten?

GDL-Chef Claus Weselsky ist Ossi - selten unter deutschen Bossen.

(Foto: MDR/Hoferichter & Jacobs)

Wer beherrscht den Osten? Der MDR fragt klug ausgewählte Protagonisten nach Machtstrukturen - und bietet damit Platz für eine längst überfällige Debatte.

TV-Kritik von Cornelius Pollmer

Im Schach gibt es die trojanische Eröffnung nicht, für die Sparte des Dokumentarfilms aber muss sie nun als erfunden gelten. Ein Zweig Lorbeer geht in dieser Sache an den MDR, für die illustrierte Eröffnung einer zweiteiligen Dokumentation zu den Machtstrukturen in der ehemaligen DDR.

Wer beherrscht den Osten?, fragt diese Dokumentation in ihrem Titel, die Frage wird an gar nicht so seidenen Fäden ins Bild getragen und darunter, im kartografierten Neufünfland, da stehen die Ossis als Bauern herum, auch sie von Fäden gezogen, die wie Schlingen um figürliche Hälse liegen. Genau so is' es!, darf da gleich zu Beginn jubilieren, wer Ungerechtigkeit zwar empfindet, darüber aber nicht allzu viel nachdenken möchte. Allen anderen wird womöglich die kleine Feinheit auffallen, dass das Eröffnungsbild gar nicht zeigt, wer die Fäden eigentlich in der Hand hält und warum - sie gehen schnurstracks am oberen Bildrand ins Nichts, und man muss schon weiterschauen, um ein größeres und differenzierteres Bild zu erhalten.

Der erste Teil der Dokumentation steht online zum Repetitorium bereit, der zweite läuft an diesem Dienstag. Grundlage beider Folgen ist auch eine Studie der Universität Leipzig, die der suggestiven Frage im Titel ein paar erschreckend deutliche Zahlen hinzufügt. In den fünf ostdeutschen Landesregierungen ist der Anteil von Politikern ostdeutscher Herkunft von 75 Prozent im Jahr 2004 auf zuletzt 70 Prozent wieder gesunken. Von 60 Staatssekretären der Bundesregierung wiederum stammen drei aus dem Osten, vor 12 Jahren waren es noch sechs. An der Spitze der 100 größten ostdeutschen Unternehmen ging der Anteil von 35,1 auf nun 33,5 Prozent zurück und noch deutlicher werden die Verhältnisse in der Gesamtschau: 1,7 Prozent der Führungskräfte in Deutschland sind Ossis.

Die 100 größten Ost-Firmen haben zusammen immer noch einen geringeren Umsatz als BMW

Trojanisch darf man die Eröffnung der Dokumentation deswegen nennen, weil sie die Eindeutigkeit dieser Verhältnisse nicht mit einem Jammerchor besingt. Es kommen klug ausgewählte Protagonisten zu Wort, die über den Osten nicht mit der diskursüblichen Ignoranz oder allzu viel Patriarchalismus sprechen. Jan-Hendrik Olbertz, gewesener Präsident der Berliner Humboldt-Universität und selbst Gegenstand biografischer Debatten, erinnert daran, dass es in der DDR nicht nur Stasi-Schweine und Freiheitskrieger gab - dass vielmehr gerade bei Wissenschaftlern die Balance zwischen Arrangement und Widerspruch eine hochindividuelle gewesen ist.

Das einseitig detektivische und oft stereotype Interesse am DDR-Gestern von Führungspersonen kontert er mit der lockeren Gegenfrage: "Ist Vergangenheit denn ein Privileg von uns Ostdeutschen?"

Für die Politik beschreibt Sachsens ehemaliger Chef der Staatskanzlei, der Wessi Johannes Beermann, ein "Wandlungsdilemma", das er beobachtet hat: Wessis im Osten und Ossis im Westen sei zunächst immer unterstellt worden, keine Ahnung von nichts haben zu können. Im Fachbereich Wirtschaft wird der Großeinkauf der Allianz skizziert, die nach dem Mauerfall gleich den kompletten Versicherungsbetrieb der DDR übernahm und noch heute bei einigen Policentypen Marktanteile von 40 Prozent im Osten erreicht. Und am Ende darf Gewerkschaftsoberst Claus Weselsky erzählen, was passieren kann, wenn man dem Mammonismus mal widersteht.

Die Dokumentation von Ariane Riecker bringt keine fundamental neuen Erkenntnisse über Machtstrukturen des Ostens hervor. Aber sie fragt, welche Folgen strukturelle Schieflagen haben können, ob sie zum Beispiel auch den Protest im Osten nähren. An anderen Punkten ist Riecker schlicht pointiert, etwa in der Feststellung, dass der gemeinsame Jahresumsatz der 100 größten Firmen im Osten noch immer unter dem des BMW-Konzerns liegt. Solche Verdeutlichungen kombiniert mit den nüchternen Analysen der Protagonisten ergäben eine sehr gute Grundlage für eine Debatte über Gerechtigkeit und Eigenverantwortung im Osten Deutschlands. Für diese Debatte aber scheint kaum Platz zu sein - auch darin kann ein Teil des Problems bestehen.

Wer beherrscht den Osten?, MDR, 22.05 Uhr.

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