"Maybrit Illner" zu Hartz IV:Die alte Tante SPD entsteigt der Gruft

SPD-Chefin Andrea Nahles bei "Maybrit Illner"

SPD-Chefin Andrea Nahles bei der Talk-Show "Maybrit Illner" im ZDF.

(Foto: ZDF/Svea Pietschmann)

Die Sozialdemokraten verabschieden sich von Hartz IV. Und Andrea Nahles bietet FDP-Chef Lindner und Linken-Chefin Kipping cool Paroli.

TV-Kritik von Lars Langenau

Gibt es eigentlich Nahles-Fans? So richtige Anhänger von Andrea Nahles? Die alten Böcke der Sozialdemokratie, die gerade im ehemaligen "Sturmgeschütz der Demokratie" wöchentlich gegen ihre Vorgängerin schießen, sicher nicht. Aber da passt auch das alte Bonmot: Feind, Todfeind, Parteifreund.

Aber auch bei Umfragen unter Nicht-Ex-Parteichefs landet die aktuelle SPD-Chefin regelmäßig im Minusbereich. Andrea Nahles also, die im April 2018 nach dem sensationell abgeschmierten Hoffnungsträger Martin Schulz (zur Erinnerung 20,5 Prozent!) den Job angenommen hat, eine am Boden zerstörte Partei wieder aufrichten zu wollen. Eine Parteivorsitzende, die mit lediglich 66,35 Prozent gewählt wurde. Eine Frau, die seither so unglaublich viel Häme ertragen musste, die jeder Arbeitsrechtler als klares Mobbing klassifiziert hätte. Ein political animal, das, wenn sie das nicht wäre, längst schon wieder hingeschmissen hätte, wie jeder normale Mensch.

Doch ich bekenne: Seit Donnerstagabend, gegen 22.40 Uhr, bin ich Nahles-Fan! Eine Frau, die - wie sagt man so schön - Eier in der Hose hat. Spätestens als sie Christian Lindner am Valentinstag, an diesem Tage der Liebe, so wunderbar anfährt: "Ey, haben Sie mir nicht zugehört?" Der FDP-Chef hatte da in der ZDF-Talkshow "Maybrit Illner" gerade darüber schwadroniert, dass die neuen SPD-Vorschläge für einen neuen Sozialstaat rückwärtsgewandt seien und letztendlich den Staatshaushalt ruinieren würden.

"Um Gottes Willen sollen wir nicht auf die Möglichkeit von Sanktionen verzichten", warnt Lindner. "Wir haben nicht nur Solidarität mit den Bedürftigen, sondern auch mit denen, die das bezahlen müssen." Nahles, der "Vulkan aus der Eifel", weist darauf hin, dass die Härte gemildert wird, aber, dass bei Fehlverhalten durchaus weiterhin Sanktionen angewendet würden. Nur eben verhältnismäßige.

Nahles: "Wir wollen einen Kulturwandel"

"Es geht mir darum, mehr Arbeit zu schaffen", kanzelt Nahles Lindner ab. "Wir wollen, dass die Arbeitswelt gerechter wird." Das habe die SPD immer vertreten. Da muss man kurz auflachen, aber noch mehr, als Lindner verunsichert kritisiert, dass nur die Groko Politik für Randgruppen wie "Flüchtlinge und Superreiche" mache.

Die Finanzierung dieser Reform der Reform sei gesichert, versichert die Partei- und Fraktionsvorsitzende trocken, "dazu brauchst Du keinen Euro mehr". Das sei alles nur eine Frage der Verteilung, der Prioritäten. Und mal ganz ehrlich: Was kann ein Arbeitnehmer (etwa 45 Millionen Menschen in Deutschland) gegen Folgendes haben? (Vorsicht, das wird jetzt ein langer Absatz): Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro, Förderung der Tarifbindung, Zeitkonten zum Ansparen von Überstunden, Recht auf Heimarbeit, bessere Abgrenzung gegen ständige Erreichbarkeit, Recht auf Weiterbildung, längeres Arbeitslosengeld nach längerer Einzahlung und bei Weiterbildung, Recht auf Nachholen einer Ausbildung, längerer Schutz von Vermögen und Wohnung bei Arbeitslosigkeit, Wegfall "sinnwidriger" und "unwürdiger" Sanktionen, Reform des Wohngeldes, Schutz vor Kinderarmut und ein einfacherer Zugang zu Sozialleistungen mit einem respektvollen Umgang.

All das findet sich auf 17 Seiten unter dem Titel "Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit". Ein Konzept, das der SPD-Vorstand gerade einstimmig beschlossen hat. Summa summarum geht es also um das "Recht auf Arbeit", um bessere Löhne, Qualifizierung und bessere soziale Absicherung. Damit will die SPD nach 16 Jahren Hartz IV "hinter sich lassen". "Wir wollen einen Kulturwandel", sagt Nahles. Man habe lange, zu lange, "kein Gesamtkonzept" gehabt, jetzt habe man wieder eins.

Das ist auch bitter notwendig. 2019 ist ein wichtiges Jahr für die Sozialdemokraten, die bundesweit bei etwa 15 Prozent herumdümpeln: Es stehen Wahlen in Bremen, Europa, dann in drei ostdeutschen Bundesländern an. Laut Spiegel-Autor Markus Feldenkirchen, ein weiterer Gast in der Talk-Runde, ist es gar "der letzte Versuch das Überleben der SPD zu sichern". Wenn die SPD diesen Weg nicht gehen würde, dann wäre die Chance, Wähler wiederzugewinnen, unwiederbringlich verloren, orakelt er.

Endlich sind die Parteien wieder unterscheidbar

Nun, Totgesagte leben bekanntlich länger und so mag das auch mit alten Tanten sein. Aber die Halbierung der Wählerschaft hat in den vergangenen 15 Jahren tatsächlich nur die SPD hinbekommen. Nahles wehrt sich gegen den Vorwurf, dass das nur taktische Motive seien: "Ich mache das für die Menschen, die erwarten, dass die SPD für sie kämpft!"

Herrlich! Die alte Tante SPD entsteigt der Gruft und riecht nicht einmal schlecht. Plötzlich ist sie wieder unterscheidbar von den anderen Parteien. Von einer FDP mit ihrem selbstverliebten Parteichef, der zwar vom Mittelstand redet, aber eigentlich die Reichen bedient. Von einer Linken, bei Illner in Gestalt einer an diesem Abend äußerst schwachen Partei-Co-Chefin Katja Kipping, die nur den Verteidigungsetat kürzen will, um soziale Projekte zu finanzieren. "Was kommt für die Menschen raus, die unter Hartz IV leiden?", fragt Kipping. "Wir müssen den Menschen die Angst nehmen."

Die Angst vor Jobverlust reiche mittlerweile bis in die Mittelschicht, sekundiert Spiegel-Autor Feldenkirchen, der dann noch schmunzelnd hinterherschickt: "Schön, dass sich die FDP endlich mal wieder über die SPD aufregen kann." Dann empfiehlt der Spiegel-Mann Nahles den Ausstieg aus der großen Koalition. Nahles cool. "Wir haben einen Koalitionsvertrag für eine Legislaturperiode."

Ja! Endlich sind die Parteien mal wieder unterscheidbar. "Wer mehr fördern will statt fordern, braucht Geld", sagt eine Moderatorin, die diesen Titel am Donnerstag wirklich verdient hat. Illner ist hellwach, blitzgescheit und reaktionsschnell. Ganz ehrlich: Eine Wohltat, diese Talkshow!

"Schön, dass sich die FDP endlich mal wieder über die SPD aufregen kann"

Doch dieser Zoff auf hohem Niveau ist dem Welt-Reporter Robin Alexander offenbar unheimlich."Wollen wir einen Staat haben, der keine Angst vor Arbeitslosigkeit macht?", fragt Alexander rhetorisch in die Runde. Ja klar, will man da rufen. Aber man ist ja nur vor dem Bildschirm. Hört ja eh keiner. Dann sagt Alexander, dass das ein Versprechen sei, das ein Staat nicht halten könne und deshalb zwangsläufig zur Enttäuschung führe.

Der konservative Journalist warnt zudem davor, dass Populisten jedes soziale Versprechen der Sozialdemokraten immer noch steigern könnten: "14 Euro Mindestlohn will dann die Linke und 16 Euro die AfD nur für Deutsche". Lachen. Böses Lachen. Die SPD sei nie eine linkspopulistische Partei gewesen, sondern die "Partei der Arbeitsdirektoren und Betriebsräte", behauptet Alexander. Er verweist dann auf Frankreich, wo das nicht der Fall gewesen sei und die Sozialisten noch tiefer gefallen sind als die SPD.

Der Mann von Welt will gerade anheben zu einer Eloge über die große Vergangenheit der SPD, vulgo einer Grabesrede, die Nahles aber souverän stoppt: "Wir leben noch!" Dabei lächelt Nahles und bufft Alexander in die Rippe. "Wir hatten sogar die Kraft in die Regierung zu gehen, als andere das nicht" wollten, sagt sie und schielt zu Lindner rüber, dann blafft sie den renitenten Welt-Mann an: "Sie müssen mir keinen Vortrag über bürgerliche Verantwortung halten!"

Es ist ein kämpferischer, ja sympathischer Auftritt von Nahles. Erstmals, ernsthaft erstmals, denke ich: Einfach souverän die Frau - trotz des grell pinken Oberteils, das sie da trägt und das in den Augen weh tut. Auch als Illner ihr zum Schluss noch bösartig ein Zitat vom eingangs erwähnten Ex-Kanzler und Ex-SPD-Chef Gerhard Schröder einspielt, der ihr im Spiegel kürzlich ökonomische Kompetenz abgesprochen hatte. Illner: "Wie kommentieren Sie das?" Nahles: "Gar nicht". Cool. Einfach cool, die Nahles. Trotz des unerträglichen Pink.

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