"Maybrit Illner" zu Corona-Protesten:Boris Palmer legt nach

Corona Palmer Illner

Ist gegen zu harte Corona-Maßnahmen, war aber nicht im ZDF-Studio: Boris Palmer. Vor ihm der Spiegel-Kolumnist Nikolaus Blome und der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans.

(Foto: ZDF/Svea Pietschmann)

Tübingens Oberbürgermeister fordert in der Talksendung die Einteilung der Menschen in Risikogruppen. Dabei legt er sich mit jemanden an, der gar nicht anwesend ist - sich aber zu wehren weiß.

TV-Kritik von Thomas Hummel

Die neuen Corona-Zeiten ändern vieles auf dieser Welt, auch das Fernsehformat Talkshow. Zuerst waren die Zuschauer weg, dann saßen die Gäste weiter auseinander (Abstandsregeln!). Inzwischen wird regelmäßig ein Gast per TV-Übertragung live zugeschaltet, diesmal bei "Maybrit Illner" Oberbürgermeister Boris Palmer mit seiner Tübinger Altstadt im Hintergrund. Der nächste Schritt ist nun, dass der Grüne Palmer mit dem SPD-Politiker Karl Lauterbach diskutiert, obwohl der gar nicht anwesend ist - der sich aber live wehrt, nämlich auf Twitter. Auch die Digitalisierung der Talkshow schreitet voran.

Die Sendung heißt: "Pandemie und Protest - kann Corona das Land spalten?" Sie spricht äußerst wichtige Fragen an, etwa die um Leben und Tod. Sie verdeutlicht zugleich, wie schwierig die Antworten darauf sind. Insofern spiegelt die Runde die neue Stimmung in Teilen des Landes wider: Meinungen zu Corona und dem Umgang damit werden plötzlich forsch bis nassforsch vorgetragen. Das erschöpfte Land sucht nach Lösungen, möglichst schnellen. Ob sie bis zu Ende gedacht sind, bleibt ungewiss.

Boris Palmer ist davon überzeugt, dass Deutschland in Grundzügen anders handeln müsse. Und wenn der 47-Jährige von etwas überzeugt ist, dann hält ihn erst mal nichts mehr auf. Dann lässt er sich nicht mäßigen, weder von der eigenen Parteispitze noch von Wissenschaftlern und schon gar nicht von diesem Herrn Lauterbach. Palmer plädiert bei "Maybrit Illner" dafür, die Menschen einzuteilen in Kategorien: Wer hat ein Risiko, an dem neuen Virus schwer zu erkranken? Und wer nicht? Kategorie eins muss geschützt werden und im Zweifel einen zweiten Lockdown erdulden. Kategorie zwei ist frei, bringt die Wirtschaft zum Laufen und darf auch sonst alles tun. Sonst würden mehr Menschen durch die Auswirkungen der Beschränkungen sterben als durch das Virus selbst.

Ein saudummer Umstand

Das ist bedenkenswert und wurde auch schon diskutiert. Doch am Ende stellt sich die Frage: Soll künftig jeder selbst entscheiden, ob er das Risiko eingehen will, nach einer Infizierung schwer zu erkranken? Oder soll er sich vorsorglich krank melden und zu Hause bleiben? Was ist mit dem saudummen Umstand, dass viele gar nicht merken, wenn sie das Virus in sich tragen und damit andere anstecken? Und darf man das überhaupt: Eine Personengruppe vom öffentlichen Leben ausschließen und die andere nicht?

So ins Detail geht's nicht in der Sendung. Palmer beschwert sich dafür, man mache den gleichen Fehler wie bei der Flüchtlingskrise 2015, als abweichende Meinungen diffamiert worden seien. In dem Fall: Wenn man nicht genau das mache, was Herr Lauterbach sage, werde man von diesem dafür verantwortlich gemacht, dass so und so viele Hunderttausend sterben würden.

Der Angegriffene antwortet auf Twitter: "Das ist unfair und stimmt nicht. Ich bin nur, ungleich ihm, dagegen, Alte und Kranke für die Wirtschaft für Jahre de facto wegzusperren."

"Eine Schande für die Grünen"

Dann erklärt Palmer, dass es die Welt nicht durchstehe, wenn man, wie Herr Lauterbach das empfehle, die Wirtschaft ein oder zwei Jahre herunterzufahren. Dieser antwortet prompt: "Ich habe NIE gesagt, dass wir Wirtschaft für 2 Jahre herunterfahren sollen. Wie unfair er ist. Eine Schande für die Grünen. Ich sage nur, die Pandemie wird wahrscheinlich 2 Jahre dauern."

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Wieso Boris Palmer in einer TV-Sendung einen Politiker angreift, der nicht anwesend ist, bleibt rätselhaft. Dabei sitzt mit Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung jemand in der Runde, der die Lauterbach'schen Thesen vertritt. Dass die Lockerungen ein Risiko seien, dass Deutschland den Lockdown noch vier Wochen hätte durchhalten müssen, dann wäre das Virus wahrscheinlich unter Kontrolle gewesen. Was auch der Wirtschaft am meisten geholfen hätte. Denn wem nützt ein offenes Wirtshaus, in das keiner gehen will?

Einmal geraten Palmer und Meyer-Hermann aneinander, was unvermeidlich ist, denn Palmer gerät an dieser Stelle mit quasi allen aneinander. Zuerst entschuldigt er sich für seinen Satz von Ende April: "Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären." Um ihn dann inhaltlich zu wiederholen. Ein Drittel der Corona-Toten in Deutschland kämen aus Alten- und Pflegeheimen, wo die Menschen laut Statistik im Schnitt elf Monate lebten, bevor sie sterben. "Die Menschen, die dort gestorben sind, waren dem Tod sehr nahe", sagt Palmer und fügt an zu wissen, was das Schlimmste sei: Mehr als 10 000 Personen seien schon wegen der Kontaktbeschränkungen einsam gestorben. Woher er diese Zahl nimmt, führt Palmer nicht aus.

Die Diskussionen werden lauter und schriller

Meyer-Hermann spricht von einer Falschinformation. Es habe in Deutschland und Großbritannien Studien gegeben, wonach die Corona-Toten im Schnitt noch neun oder mehr Jahre hätten leben können. Palmer redet dazwischen: "Das halte ich für falsch. Die Statistik ist objektiv falsch." Wer nun recht hat?

Christiane Woopen, Vorsitzende des Europäischen Ethikrates, fragt, ob es überhaupt relevant sei, wie lange die Leute noch gelebt hätten. Das könne in diesem Land, wo wir die Würde des Menschen in Artikel 1 des Grundgesetzes stehen haben, kein Maßstab sein. Wonach sie von Spiegel-Redakteur Nikolaus Blome aufgeklärt wird, dass das Vermeiden des Todes auch in anderen Lebensbereichen nicht die oberste Leitschnur unseres Handels sei. "Dann müssten wir alle Autobahnen schließen." Punkt für Blome, schließlich können sich die Deutschen nicht einmal auf ein Tempolimit einigen.

Die Abwägungen in dieser Corona-Krise waren und sind schwer zu treffen. Die Diskussionen werden lauter und schriller. Manch einer wird sich indes an einem Satz von Michael Meyer-Hermann wärmen: Die vielen leeren Betten in den Krankenhäusern seien "ein Zeichen dafür, dass wir alles richtig gemacht haben".

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