Maischberger-Talk zu Sekten:Glaube als Käfig

Menschen bei Maischberger, Folge 402

Ein Gast bei der gestrigen Folge von Menschen bei Maischberger: die ehemalige "Zeugin Jehovas" Barbara Kohout

(Foto: WDR/Max Kohr)

In welchen Lebenssituationen geraten Menschen in die Fänge einer Sekte? Was droht Aussteigern? Und wie schlimm sind die Prügel-Praktiken bei den Zwölf Stämmen? Das will Sandra Maischberger von ihren Gästen wissen - und bekommt Antworten, die schockieren.

Eine TV-Kritik von Johanna Bruckner

Am Morgen des 16. September machen sich die beiden Schwestern, 17 und zehn Jahre alt, auf zur Schule. Elf Tage sind sie da schon bei ihrer Pflegefamilie. Sie wurden ihren leiblichen Eltern, Mitgliedern der urbiblischen Sekte Zwölf Stämme, entzogen, der Verdacht lautet auf Kindesmisshandlung. Die Boulevardpresse feierte die Polizeiaktion in Bayern, bei der insgesamt 40 Kinder in staatliche Obhut genommen werden, als Befreiung. Die beiden Mädchen aber wollen nicht frei sein, vielleicht können sie es auch nicht. Am elften Tag nutzen sie den Schulweg zur Flucht.

Wie kann Glaube zum Käfig werden? Und wie können religiöse Überzeugungen Eltern dazu bringen, ihren Kindern Gewalt anzutun oder Gewalt an ihren Kindern zu dulden? Diese Fragen drängen sich einmal mehr auf, seit die brutalen Erziehungsmethoden der Zwölf Stämme ans Licht der Öffentlichkeit gebracht wurden. Auch Sandra Maischberger sucht am späten Dienstagabend Antworten und Erklärungen für Dinge, die nach normalem menschlichem Ermessen kaum nachzuvollziehen sind. "Das Geheimnis der Sekten - Gehirnwäsche oder wahres Glück?", lautet der Titel ihres Talks im Ersten.

Vor dem Hintergrund der dokumentierten Prügel-Praktiken klingt das zynisch. Dass die Sendung trotz des verunglückten Titels sehenswert wird, weil sie Einblicke in die abgeschottete Welt von Sekten gibt, verdankt die Moderatorin ihren Gästen - allen voran den geladenen Aussteigern.

Über die Sinnsuche in der Sekte

Etwa 800.000 Menschen gehören hierzulande Religionsgemeinschaften an, welche die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen als "Sekten" einstuft (Anm. d. Red.: Welche Gruppierungen unter diesen Begriff fallen, ist nicht einheitlich geregelt, deshalb kann auch die Mitgliederzahl variieren.). Einer von ihnen war Frank Büchner, mit 22 Jahren trat er den Zwölf Stämmen bei. Er sei damals auf Sinnsuche gewesen, habe nach einem Ausweg aus dem "Rat Race" des Joballtags gesucht, erzählt er. Was ihn mehr als 20 Jahre bei den Zwölf Stämmen hielt? Das Leben in der Gemeinschaft - so bezeichnet Büchner die Sekte auch noch nach seinem Ausstieg - habe auch "viele schöne Seiten" gehabt: das Miteinander, die verschiedenen Aufgaben, die er über die Jahre habe ausführen dürfen, die Reisen zu Glaubensgeschwistern in der ganzen Welt.

Und Büchner verliebte sich, gründete eine Familie. Doch da bekam seine neue heile Welt erste Risse. Tägliche Schläge mit der Rute seien Teil des Erziehungskonzepts der Zwölf Stämme, erklärt Büchner auf Nachfrage von Maischberger. "Wer seine Kinder liebt, züchtigt sie." 80 Schläge in zwei Tagen dokumentierte der RTL-Reporter Wolfram Kuhnigk mit versteckten Videokameras. Auch er ist Gast bei Maischberger. Ob sich Kinder überhaupt so verhalten könnten, dass sie keine Prügel bekämen, hakt die Moderatorin bei Büchner nach. Bei den Jüngeren sei das unwahrscheinlich, aber mit elf, zwölf Jahren seien Kinder "so gebogen oder gebrochen, dass das nicht mehr passiert".

Idylle nach außen, Terror im Innern

Seltsam emotionslos wirkt der vierfache Vater bei diesen Schilderungen. Das mag eine Nachwirkung der jahrelangen Indoktrination sein - vielleicht ist es auch ein Versuch, sich von jener barbarischen Pädagogik zu distanzieren, der Büchner auch seine eigenen Kinder unterwarf. Nach einem ersten gescheiterten Ausstiegsversuch seien seine Kinder "mit Gewalt zurück auf den Weg" gebracht worden - darunter sein damals erst einjähriger Sohn.

An dieser Stelle ist selbst die Moderatorin sprachlos und bringt eine drängende Frage erst mit Verspätung an: Wenn es doch Zeugenaussagen gab, die Misshandlungen bei den Zwölf Stämmen belegen - warum wurden die Behörden nicht früher aktiv? Die geladene Sektenexpertin wartet mit einem hilflos-unbefriedigenden Erklärungsversuch auf. Die Abschottung ermögliche Verbrechen, so Sabine Riede. Und: "Man hat sich das nicht so schlimm vorgestellt, mal ein Klaps hier und da."

Kinder als "Türöffner"

Den Eindruck, eine harmlose Gruppierung zu sein, versuchen viele Sekten zu erwecken. Barbara Kohout missionierte jahrzehntelang für die Zeugen Jehovas, die zweitgrößte Sekte in Deutschland. "Kinder werden mitgenommen, um Türen zu öffnen", berichtet die 74-jährige Aussteigerin. Ihre eigene Tochter ließ Kohout einst beinahe sterben, weil die Zeugen Jehovas Bluttransfusionen strikt untersagen. Lea Laasner Vogt, deren Eltern einem Guru nach Belize (Zentralamerika) folgten, erzählt, wie sich die Glaubensgemeinschaft den Einheimischen als Umweltschutzorganisation präsentierte. Mit Erfolg: Dass der Sektenführer die damals 13-Jährige zu seiner Lebensgefährtin machte, sich über Jahre an ihr verging, merkte außerhalb der Gemeinschaft niemand. Ihr Vater sei zwar schockiert gewesen, "aber zu diesem Zeitpunkt schon gebrochen".

Kontrolle, Bestrafung und propagierte Alternativlosigkeit. Nach diesem Prinzip funktionieren die meisten Sekten, das machen die Berichte der Aussteiger deutlich. Mal wird den Mitgliedern suggeriert, der Weltuntergang stehe bevor und einzig die Glaubensgemeinschaft sichere das Überleben (Zeugen Jehovas), mal geht es um nicht weniger als die Weltherrschaft einer Elite (Scientology). "Der Verstand spielt dabei keine Rolle, Sekten appellieren an die Emotionen. Sie vermitteln ihren Anhängern das Gefühl: 'Ich bin etwas ganz Besonderes, ich arbeite mit an der Veränderung der Welt'", erklärt Sektenexpertin Riede.

Psychoterror nach dem Ausstieg

Druck oder gar Verbote, so Riedes Einschätzung, dringen nicht durch, sondern stärken im Gegenteil noch das Gemeinschaftsgefühl. "Man verleugnet sein Selbst, lebt ganz in der Wir-Rolle", erläutert das frühere Zwölf-Stämme-Mitglied Büchner. Besonders schwer fällt der Ausstieg deshalb all jenen, die nie die Chance hatten, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln: Kinder und Erwachsene, die nichts anderes kennen als das Leben in und mit der Glaubensgemeinschaft. Barbara Kohout hat den Schritt dennoch gewagt und den Zeugen Jehovas den Rücken gekehrt - nach 60 Jahren. Zu ihrer 93-jährigen Mutter darf Kohout seitdem keinen Kontakt haben.

Der Verleumdung ausgesetzt

Und Sekten halten ihre Mitglieder nicht nur in psychologischer Abhängigkeit. Jenna Miscavige Hill, Nichte des Scientology-Chefs David Miscavige, schildert eindrücklich, wie es ihr beim Ausstieg an lebenspraktischem Wissen fehlte: "Ich hatte keine Schulausbildung, geschweige denn einen Abschluss. Ich kannte meine Sozialversicherungsnummer nicht. Ich konnte nicht Auto fahren." Miscavige Hill hat ein vielbeachtetes Buch über das Leben in der Organisation geschrieben, die in den USA ungleich populärer ist als in Deutschland. Seitdem sieht sie sich Verleumdungen ausgesetzt. "Sie sagen: Wenn es so schlimm ist bei uns, warum steigen dann nicht mehr Leute aus? Wer gehen will, kann das jederzeit tun - dafür bist du doch das beste Beispiel!"

Lea Laasner Vogt ist mit 21 Jahren geflohen - und hat ihren Peiniger, den Guru, angezeigt. Doch kurz vor Prozessbeginn tauchte der unter, ist seitdem auf der Flucht. Ob es sie nicht ärgere, dass ihr die Genugtuung einer Verurteilung verwehrt geblieben sei, fragt Moderatorin Maischberger. "Er ist nach meinem Verständnis kein freier Mensch - das ist für mich eine Genugtuung", sagt die junge Frau.

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