Künstlerprojekt "Made to Measure" im WDR:Ein Double aus Daten

Lesezeit: 2 min

Schauspielerin Nathalie Köbli stellt eine Szene aus dem Leben der Experimentteilnehmerin nach. (Foto: WDR/Konrad Waldmann)

Eine Künstlergruppe bildet eine Frau nach, allein aus deren Google-Suchanfragen. Über ein brisantes TV-Projekt.

Von Catrin Lorch

Die Gefahr von Big Data, dem Datensammeln im Internet, bei dem Algorithmen nicht nur Konsumpräferenzen, sondern auch privateste und intimste Details kalt berechnen, war der Ausgangspunkt eines Experiments: Die Künstlergruppe Laokoon wollte herausfinden, ob es möglich ist, "allein durch Analyse der Daten, die Google über einen Menschen gesammelt hat, ein Double aus Fleisch und Blut in Gestalt einer Performerin" zu erschaffen. Über einen Aufruf fand sich eine Freiwillige, die den Künstlern ihren kompletten Datensatz der vergangenen Jahre zur Verfügung stellte. Diese analysierten und interpretierten - und schrieben schlussendlich ein Skript, das von einer Schauspielerin einstudiert wurde.

Klingt spektakulär? Die Ergebnisse können sich durchaus sehen lassen. Laokoon konnte die Biografie der Testperson relativ genau nachzeichnen, wusste über Wohnorte, Beruf und biografische Vorfälle Bescheid und machte sich daran, beispielsweise das Londoner Haus, in dem die junge Frau eine Zeit lang wohnte, für die Bühne des PACT Zollvereins in Essen nachzubauen, inklusive des Wettbüros im Erdgeschoss. Am Ende stand wohl nicht nur die Einrichtung an Ort und Stelle - dass auch private Krisen wie eine überwundene Essstörung oder eine ungewollte Schwangerschaft sich im Verlauf der Suchmaschinen abzeichneten, war ein Ergebnis, das für die Probandin durchaus verstörend war.

Dramaturgisch wirkt der Schock der jungen Frau so einstudiert wie eine Vorabend-Fernsehshow

Was in der Fernseh-Dokumentation zum Projekt allerdings nicht wirklich nachvollziehbar ist. Dramaturgisch wirken der Schock und der Schrecken der jungen Frau auf dem Split-Screen so einstudiert wie in einer Vorabend-Fernsehshow. Zudem haben die Macher Interviewfragmente in die Sendung gemixt, die das Experiment einordnen und kommentieren sollen - jedoch leider allesamt in der Starbucks-Workspace-Ästhetik eines Ziegelbaus gefilmt wurden. Theoretiker wie die amerikanische Professorin Sandra Mantz geben zwar kundig Auskunft über die gesellschaftlichen Gefahren von Big Data, aber sie referieren eigentlich nur die durchaus nicht neuen Thesen, nach denen ein paar Klicks genügen, damit Facebook, Google oder Amazon unsere Persönlichkeit mindestens so gut einschätzen können wie engste Freunde und Familie.

Wie ähnlich werden sich die Experimentteilnehmerin und ihre Doppelgängerin sein? (Foto: WDR/Konrad Waldmann)

Ja, das alles ist brisant - dennoch findet Made to Measure an kaum einer Stelle zu einer Form, die als Erzählung besondere Perspektiven oder dichte, berührende Momente enthält. Sogar schockierende Momente - wie die Enthüllung der Essstörung - wirken inszeniert. Der ganze Aufwand, der da abgebildet wird, zeigt, dass die Künstlergruppe zwar den Stil, beispielsweise die Verzahnung von Performance, virtuellen Effekten und Experiment, bei berühmteren Künstlern wie Omer Fast oder dem Kollektiv Forensic Architecture genau studiert hat. Wo es jenen aber gelingt, komplexe politische oder historische Ereignisse als gültiges Narrativ zu entfalten, raunt Laokoon nur - und hängt plappernd dem so wenig überzeugenden "Experiment", das im Kern ja in der Interpretation aller Daten einer zufällig ausgewählten Person besteht, einfach immer mehr Fußnoten, Kapitelchen und Effekte an.

Made to Measure - eine digitale Spurensuche, WDR, am 1.9. 22.15 Uhr.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusBild-TV
:Der süße Schrei

Seit einer Woche läuft der Boulevard von "Bild" auch im Fernsehen. Was gibt es hier zu sehen? Ein TV-Tagebuch.

Von Cornelius Pollmer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: