Süddeutsche Zeitung

Lina Beckmann im Porträt:Die Wucht

Sie spielt den fiesesten Schurken der Theatergeschichte und ist Charly Hübners Nachfolgerin im Rostocker "Polizeiruf 110": die Granatenschauspielerin Lina Beckmann.

Von Christine Dössel

Es ist zurzeit schwer, sich mit Lina Beckmann zu verabreden. Die Schauspielerin, bisher vor allem im Theater ein Name, ist ständig am Drehen. In der Rolle der Kommissarin Melly Böwe ist sie die neue Ermittlerin im Rostocker Polizeiruf 110, wo sie den ausgeschiedenen Charly Hübner alias Sascha Bukow ersetzt. Ihren Einstand gab sie im April in der Episode "Familie kann man sich nicht aussuchen", da war die Anschlussfolge bereits abgedreht. Im Moment entstehen zwei weitere Folgen direkt hintereinander. "Das sind acht Wochen geballte Dreharbeiten", sagt Beckmann entschuldigend in die Kamera. Das geplante Treffen ist jetzt doch nur ein Videotelefonat. Mit dem unverhofften Vorteil, dass man dieser saftigen, auch im Gespräch äußerst expressiven Schauspielerin dadurch sogar näherzukommen scheint, als es in einer Theaterkantine der Fall gewesen wäre.

Denn Beckmann sitzt nicht etwa in konzentrierter Interview-Wachsamkeit auf Distanz vor einem Computer, sondern sie hat ihr mobiles Endgerät so nahe an ihrem ausdrucksstarken, ungeschminkten Gesicht, dass man dieses in Großaufnahme und zum Teil nur in wackeligen Ausschnitten sieht: die verschmitzte Mundpartie mit den sympathisch ungeraden Zähnen, die lachenden blauen Augen, oder auch mal nur eine Pausbackenseite, mit lustig baumelndem Goldohrring. Es ist herrlich. Ein Gesichtstheater mit ausgeprägtem Mienenspiel. Dazu diese ungeschliffene Stimme, der kindlich-rotzige, manchmal staunende Ton, ihr rau perlendes Lachen. Es kommt auch ständig die linke Hand ins Bild, mit der sie ihre frisch beim Reden verfassten Gedanken gestikulierend unterstreicht und gelegentlich eine Locke zwirbelt, die herabhängt von der Hochsteckfrisur. Die sonst blonden Haare trägt sie derzeit kupferrot (wie ihre Kommissarin Melly Böwe). Was für eine erfreuliche Erscheinung! So eine frohgemute Natürlichkeit. Anderer Name für Authentizität? Lina Beckmann.

Sie schmeißt sich mit Uneitelkeit in die Rollen - eine Bauch- und Körperschauspielerin

Dass sie einem auch über Bildtelefonie derart unverstellt nahekommt, passt zu dieser die Bodenständigkeit des Ruhrpotts wonnig vertretenden Wuchtschauspielerin. Geboren 1981 in Hagen spielte die mittlere Tochter eines Wirtschaftsjournalisten und einer Sonderschulpädagogin schon in der Waldorfschule Theater, wurde an der ehemaligen Schauspielschule Bochum sofort genommen, arbeitete dann in Bochum und Zürich und gehört seit 2007 fest zum Ensemble von Karin Beier, erst in Köln, seit 2013 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Die ganze Frau so geradlinig wie ihre Karriere. Sie ist weniger eine Kopf- als eine Bauch- und Körperschauspielerin. Im Theater schmeißt sich die 41-Jährige mit einer solchen Uneitelkeit und Unbedingtheit in ihre Rollen, so schonungslos, frei und urinstinktiv, dass ihr Spiel allenfalls Kühlschränke kaltlässt. Sie hat ein Naturtalent, das einen zu Adjektiven wie "begnadet" oder "genialisch" greifen lässt, ohne dass man sich schwärmerischer Übertreibung schämen müsste.

Seit Jahren leuchtet sie selbst in kleinen Rollen mit ihrem großen Gesicht und ihrem großen Gefühl heraus, oft auch in komischen Parts. Denn Lina Beckmann hat das alles drauf, die ganze Bandbreite von der Tragödie geschundener, leidender Frauenfiguren - wie Gerhart Hauptmanns "Rose Bernd" - bis hin zur grellen Farce à la Alan Ayckbourns "Ab jetzt", wo sie als Hostess und Haushaltsroboter etlichen Hamburgern heftige Schmerzen bereitet haben soll, weil es sie vor Lachen fast zerriss. Manchmal ist sie auch herzzerreißend anrührend wie der Narr, den sie, in Beiers Regie, an der Seite von Edgar Selge in Shakespeares "König Lear" spielte. "Munkel" nannte sie ihren Herrn und sang ihm leise quäkende Lieder.

Beckmann hat bereits viele Schauspielpreise abgeräumt. Den bisher renommiertesten erhält sie an diesem Samstag in Bensheim: den Gertrud-Eysoldt-Ring, mit dem vor ihr schon Kolleginnen wie Nina Hoss, Kirsten Dene, Sophie Rois und Sandra Hüller ausgezeichnet wurden und Schauspieler wie Klaus Maria Brandauer, Nicholas Ofczarek oder Lina Beckmanns Mann Charly Hübner. Geehrt wird sie für den titelheldenhaften Parforceritt in Karin Henkels Inszenierung "Richard the Kid & the King", die in Hamburg ein Renner ist und das Publikum regelmäßig zu Ovationen hinreißt. Sie gelten vor allem ihr, der tolldreisten Virtuosin in dieser Hosenrolle. Das Stück ist eine Adaption von Shakespeares "Richard III." mit Fokus auf dessen Kindheit und der Frage, wie dieser fieseste Schurke der Dramengeschichte ein solches Aas werden konnte.

Äußerlich ein Horrorclown mit Joker-Visage und Anleihen bei dem sadistischen Alex aus Clockwork Orange legt Beckmann vier Stunden lang mit Mordslust und Mut zur Hässlichkeit eine irrsinnige Körperperformance hin. Sie spuckt, rast und schwitzt, meuchelt und manipuliert, kommentiert sich selbst und ihren S-Fehler, bezirzt und rüffelt das Publikum, gibt das verkrüppelte, verspottete Kind und den krassen, kaputten Killer. Wie sie dieses Energie-Level über die lange Strecke hält? Sie sagt: "Man steigt aufs Pferd, und dann reitet man los." Was insofern ein plastisches Bild ist, als Klein-Richard anfangs ein Schaukelpferd reitet. "Der ist dann ja nicht mehr zu stoppen, und ich springe auf diese Energie."

Es sei eine enorme Kraftanstrengung, räumt die Schauspielerin ein, aber es mache sie auch glücklich: "Wenn ich merke, dass die Leute mitgerissen werden und wir sie nicht kaltlassen, ist es genau das, warum ich Theater mache." Es muss um etwas gehen. Immer volle Pulle. Laue Sachen sind nicht Beckmanns Ding. Die "Richard"-Meriten schiebt sie bescheiden der Regisseurin zu, die ihr diese Rolle "quasi auf den Leib geschrieben" habe. Mit Karin Henkel hat sie schon viele Erfolge gefeiert. "Ich liebe ihren Teufelshumor. Wir sind ein gutes Gespann."

Als sie Hübner auf den Proben spielen sah, dachte sie: "Oh, jetzt verlieb ich mich aber richtig, richtig doll."

Es war denn auch bei einer Henkel-Inszenierung - Tschechows "Kirschgarten", 2010 in Köln -, als es auf den Proben zwischen ihr und Charly Hübner funkte, ihrem Ehemann und Lebensmenschen. Beckmann erzählt, wie sie Hübner zuvor beim Berliner Theatertreffen kennengelernt hatte und sofort "geflasht" war von "diesem Gesicht". Der Leser möge sich jetzt bitte Beckmanns Gesicht vorstellen, wie sie es zu größtem Schockverliebtheitsstaunen verzieht und ihre Reaktion von damals fast comichaft nachspielt: "Fruuup .... wer ist DAS denn?!" Sie fand Hübners Gesicht "soo schön, soo bemerkenswert", sie zieht die "os". Als er dann im "Kirschgarten" den Lopachin spielte (sie war die Warja), habe sie sofort gewusst: "Oh, jetzt verlieb ich mich aber richtig, richtig doll."

Das beruhte auf Gegenseitigkeit, und seitdem sind die beiden ein Paar, ein Dream-Team. Zwei Schauspielgranaten. Beide im selben Ensemble, manchmal im selben Stück. Auch im Film sah man sie schon Seite an Seite, so in Lola Randls fabelhafter Burnout-Komödie Fühlen Sie sich manchmal ausgebrannt und leer? (2017). Beckmann spielt darin mit Intensivkomik eine Doppelrolle: die gestresste Paartherapeutin Luisa und eine unschuldig-naive Abspaltung ihrer selbst namens Ann, die ihr äußerlich aufs Haar gleicht, aber alles viel entspannter angeht, auch in Bezug auf Luisas Mann (Hübner).

Dass sie künftig im Team mit Katrin König (Anneke Kim Sarnau) im Rostocker Polizeiruf ermittelt und damit ihren eigenen Mann ersetzt, war eine große Überraschung. Auch für sie selbst. Denn diese Idee ist nicht etwa zwischen ihr und dem nach fast zwölf Jahren amtsmüden Charly Hübner auf dem heimischen Sofa ausgeheckt worden, wo die beiden immer alles besprechen. Sondern es kam die Produzentin Iris Kiefer mit dem Vorschlag daher. Man muss sich jetzt bitte wieder Lina Beckmann vorstellen, wie ihre Augen zu Tischtennisbällen werden, während sie ruft: "Und wir beide erst mal so: Wuhuuu, was soll das denn jetzt? Das geht doch nicht!" Bis sie sich mit der Idee angefreundet hatten ("Wieso eigentlich nicht?"). Auch Sarnau fand das gut, und so gehen in Rostock statt König & Bukow nun König & Böwe auf Verbrecherjagd. Wobei Melly Böwe Bukows Halbschwester aus Bochum ist. Als solche war sie bereits 2021 in einer Episode eingeführt worden.

Wenn sie von ihrer Kindheit in Wanne-Eickel erzählt, klingt das mehr nach Bullerbü als nach Ruhrgebiet

Charly Hübners Rat an sie: "Folge deiner Intuition! Was ist dein erster Gedanke, dein erstes Gefühl?" Sie selber hat sich vorgenommen, ihre Figur "sehr aufrecht, beobachtend und offen" an die Fälle rangehen zu lassen. "Die ist nicht zynisch, nicht ironisch. Ich finde die erst mal sehr gesund." Privat weiß man von dieser Melly Böwe, dass sie alleinerziehende Mutter einer gerade volljährigen Tochter ist. Gleich zu Beginn sah man sie zu Abbas "Dancing Queen" Muffins backen. Eine Hausfrau und Glucke? "Ich würde sagen, sie weiß es sich gemütlich zu machen", erwidert Beckmann. "Sie isst gerne. Sie schmeckt gerne. Sie weiß, was sie braucht, um sich zu schützen und sich nicht aufzureiben." Ein völlig anderer Typus Frau als die kühle Analytikerin König. Auf privater Ebene finden die sich erst mal nicht. Aber sie schätzen sich.

Beckmann, Mutter eines 14-Jährigen aus einer früheren Beziehung, ist selber ein Familienmensch. Mit großer Liebe und Wärme spricht sie von ihren vier Geschwistern und den diversen Nichten und Neffen, mit denen sie so gerne Zeit verbringt. Ihre ältere Schwester Maja Beckmann, eine tolle Theaterschauspielerin auch sie, sei im Lockdown bei ihr eingezogen. Jetzt bilden Hübner, die Beckmann-Schwestern und der Sohn eine Vierer-WG. Ein Pudel kommt noch hinzu. Wenn sie von ihrer Kindheit in Wanne-Eickel erzählt, wo die Familie in einem alten Bauernhaus mit Riesengarten wohnte, klingt das mehr nach Bullerbü als nach Ruhrgebiet: Bilder von erdbeerverschmierten Mündern und Grasfüßen im Bett. "Das war so unglaublich frei und schön", schwärmt Beckmann. Sie strahlt über das ganze Gesicht. Vielleicht sei sie deshalb Schauspielerin geworden: "um etwas von diesem Gefühl wiederzufinden".

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