Lena und der Grand Prix 2011:Selbstverstümmelung der ARD

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Lena ist der Star des Eurovision Song Contest. Die ARD nutzt das nicht - sondern wirbt vor allem für Raab.

Heinz Klaus Mertes

Deutschland ist viel abhandengekommen in den letzten Tagen des Mai 2010. Verloren gingen Schlag auf Schlag die Capitanos Ballack, Koch und Köhler. Die Werthaftigkeit der Verluste wird unterschiedlich beurteilt. Ein Verlust aber wird weithin nicht einmal wahrgenommen - die Selbstverstümmelung der ARD, und zwar ausgerechnet, als "unsere" Lena in deren ureigenem Programm alles an Kompensation deutscher Ablenkungs- und Identifizierungsbedürfnisse rauschhaft leistete.

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Auswahl.

Dass die Boulevardmedien sich opportunistisch überschlagen über den europäischen Punktsieg des quirligen Fratz mit dünner Stimme und schlechtem englischem Sound, ist in solch trüben Nachrichtenzeiten ja noch zu verstehen. Man will ja vor der emotionalen WM-Ausbuchtung das gefühlige schwarzrotgoldene Warm-up nicht verpassen. Was im Lena-Hype allerdings unterging, ist die freiwillige Unterwerfung von Europas größtem Network, der öffentlich-rechtlichen ARD, unter die PR-Walze eines Privatsenders, dessen Besitzverhältnisse nicht einmal berechenbar sind.

War das Raab-Engagement für den Songtest der Eurovision schon das Eingeständnis der ARD, diesen sicheren Quotenhit samt einer schier unübersehbaren Verwertungskette über ein Jahrzehnt vermurkst zu haben, so geriet Lenas große Stunde zur bedingungslosen Kapitulation vor dem Entertainer aus dem Privatsystem.

Das Gesicht des Marktkonkurrenten wurde bei der Siegesfeier in Hannover mit den größten NDR-Ü-Wagen in die Wohnzimmer gebracht: die Tagesschau in allen Ausgaben, die Tagesthemen, dazu Sondersendungen und Querpromotion ohne Ende. Alle ehrbaren Programmplätze des angeblichen deutschen Informationssenders Nummer eins - einschließlich der Dritten Programme - transportierten mit aller Bilderwucht den bärigen Schöpfer seiner zierlichen Schöpfung in die Fernsehhaushalte.

Erschlagend, wie er sich mit seiner massigen Statur, die schwarzrotgoldene Fahne schwingend, für das TV-Volk in den ikonenhaften Vordergrund schob und so die ARD um die ihr zustehende Profilierungschance auf dem Trendmarkt des jüngeren Publikums brachte! Die ARD hat's gegeben, aber Pro Sieben hat es genommen. Das war ungefähr so, als würde der FC Bayern nach Gewinn der Champions League dem FC St. Pauli die Lorbeeren und das Feiern überlassen.

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Noch in den Tagen danach stilisierte die ARD auf ihren Nachrichtenplätzen den Pro-Sieben-Moderator, der sich jahrelang mit hämischen Witzeleien über die öffentlich-rechtlichen Stümper hervorgetan hatte, zum eigentlichen Triumphator der nationalen Siegesstimmung.

Der zumindest behielt klaren Kopf. Ohne jegliche Absprache stürzte er das Bedingungswerk des Wettbewerbs um. Nicht mehr ein Publikumscasting soll den deutschen Vertreter für den nächsten Contest herausfiltern, sondern Siegesgöttin Lena müsse von vorneherein gesetzt sein, um ihren Titel zu verteidigen. Eigentlich ziemlich durchsichtig und ziemlich unverschämt dieses Umsturzmanöver mit dem Ziel, dem Raab-System kommerziell ein ganzes Jahr bis zum nächsten europäischen Großevent samt Protagonistin zu sichern.

Doch statt rationaler Gegenwehr folgte anderntags die Unterwerfung des zuständigen NDR-Intendanten Lutz Marmor, der damit die Potentiale dieser originären ARD-Veranstaltung wohl endgültig aus der Hand gab. Selten dürfte ein Unternehmen seine Marktchance und einen Markenkern so verschleudert haben. Früher hatten Intendanten, wenn schon keine Ahnung von Show Business, so doch wenigstens den strategischen Instinkt, eifersüchtig auf ihr Besitztum zu achten.

So wäre es nach dieser neuen Philosophie durchaus überlegenswert, den publikumsstarken RTL-Magneten Peter Klöppel als ARD-Nachrichtenanchor vom Morgen- bis zum Nachtmagazin einzusetzen. Denn dort fehlt es ja erkennbar der ARD an starken eigenen Typen mindestens so sehr wie in der Lena-Branche. Oder man kauft gleich Stefan Raab. Dann hätte man wenigstens etwas von dem Gebührengeld, das man investiert. - für den eigenen öffentlich-rechtlichen Profilgewinn und nicht für den des privaten Konkurrenten.

Der Autor Heinz Klaus Mertes war Fernsehchefredakteur des Bayerischen Rundfunks / ARD und Programmdirektor von Sat 1und ist heute als Medienberater tätig.

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