Wir wollen raus. Raus aus unseren Wohnungen. Und zwar richtig. Nicht bloß, um für Toilettenpapier und Hefe vor Drogerien und Supermärkten Schlange zu stehen. Wir wollen Freunde treffen, statt nur zu chatten. Wir wollen in Biergärten, in Fußballstadien, zum Yoga und in die Berge. Sogar in die Oper und an Ostern zu den Großeltern.
Wir werden so froh sein, wenn all die Beschränkungen, die uns das Coronavirus vom Hals halten sollen, endlich wieder aufgehoben werden, dass wir den Tag, an dem das passiert, zum neuen Nationalfeiertag erheben werden. So jedenfalls prognostiziert es Johannes Unger in seinem Beitrag zur neuen Kurzfilmreihe 4 Wände Berlin .
Corona und Kultur:Wie man Künstlern und Kulturinstitutionen jetzt helfen kann
Theater, Kinos und Clubs sind geschlossen, Lesereisen und Konzerte abgesagt: Für viele Künstler fallen durch Corona alle Einnahmequellen weg. Dagegen lässt sich etwas tun - zumindest ein bisschen.
Stand jetzt wäre das der 20. April. Dann also wäre Hitlers Geburtstag unser neuer Nationalfeiertag.
Die soziale Isolation gebiert offenbar fürchterliche Gedanken, das veranschaulicht nun auch das Projekt 4 Wände Berlin, das derzeit auf Initiative des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) entsteht. Die ersten fünf dieser Kurzfilme waren bis Sonntag zu sehen. Das bislang bevorzugte Genre darin: Horror. Und auch wenn es nicht immer danach aussieht - der Nationalfeiertags-Vorschlag etwa kommt erst einmal ganz unschuldig daher.
In jeweils 120 Sekunden inszenieren Filmemacher aus der Hauptstadtregion ihr Leben in häuslicher Einsamkeit, eine Homestory in Krisenzeiten. 30 Filme sollen es werden, für jeden Tag im April einer. Jeweils um 11 Uhr wird eine neue Episode veröffentlicht, auf den sozialen Kanälen der Hörfunkwellen Radio Eins und RBB Kultur sowie im Netz unter rbb-online.de. Zudem werden sie in der Abendschau gezeigt. Filmemacherinnen und Filmemacher wie Hans-Christian Schmid, Volker Heise, Wim Wenders, Annekatrin Hendel, Lutz Pehnert oder Mo Asumang sind die prominentesten Beteiligten.
Johannes Unger, der die Abteilung Dokumentation und Zeitgeschehen beim RBB leitet und dort eher mit extremen Langformaten wie den Dokuprojekten 24h Berlin und 60 x Deutschland befasst ist, bringt in seinem Zweiminüter Beschissene Zeiten die Idee mit dem neuen Nationalfeiertag auf. Nach Ironie klingt das nicht, vielmehr ist der Gedanke ein ernst zu nehmender Beleg dafür, dass Denken Weite braucht. Denn auch wenn der Tag der Befreiung nicht auf den 20. April fallen sollte, haben wir Wichtigeres zu feiern als den Umstand, dass wir mit all den Menschen, die uns schon früher auf die Nerven gefallen sind, endlich wieder U-Bahn fahren dürfen.
Und manchmal reicht der Horizont nur bis zur nächsten Perforation im Toilettenpapier
Das weiß auch Unger, der mit einer Mischung aus Spott, Verzweiflung und Larmoyanz darauf reagiert, dass der Horizont derzeit an den Wänden der eigenen Wohnung endet und manchmal gar nur bis zur nächsten Perforation im Toilettenpapier reicht. Den Hygieneartikel macht er zum Fetisch, den die Kinder entweihen, indem sie Rollen zum Büchsenwerfen aufstapeln. Unger selbst trägt ihn wie eine Monstranz durch die Wohnung und benutzt ihn, beschriftet mit essenziellen Botschaften, wie ein wertvolles Papyrus - für den eigentlichen Zweck ist ihm das Toilettenpapier längst viel zu schade.
Absichtsvoller hat der Schauspieler und Regisseur Pierre Sanoussi-Bliss Humor unter den Horror gemischt - und bösen. Mit seinem Kurzfilm Papierkram hat 4 Wände Berlin begonnen, in einer Hängematte. Was soll sich schon geändert haben durch Corona, erzählt Sanoussi-Bliss schaukelnd einer Freundin am Telefon: "Seit fünfeinhalb Jahren keinen Drehtag mehr", sagt er und ereifert sich über das "persilgewaschene" deutsche Fernsehen. Dann geht er ins Innere, dort gehen die Lichter aus.
Und im Dunklen spielt sich die Ilias in Kürzestform ab, jedenfalls jener Teil mit dem Trojanischen Pferd. Nach zwei Minuten weiß man, dass man eines nie zum Feind haben möchte: Klopapier.
In den besten Momenten ist das Filmprojekt Beleg dafür, dass in der Krise gute TV-Momente entstehen können. Mitunter aber zeigt sich, wie schwer es ist, in gerade mal zwei Minuten eine packende Geschichte zu erzählen.
Viktoria Kleber scheitert in Schlafanzug und Solidarität daran, weil ihr Film keinen doppelten Boden hat, keinen Kniff, keinen Wendepunkt. Sie dokumentiert schlicht ihren Alltag und hängt noch einen Appell dran. Millionen Menschen machen das so ähnlich auf Instagram.
Ein Spezialist für kurze Formen ist hingegen Volker Gerling: Er stellt Daumenkinos her, mit denen er normalerweise auf Wanderschaft geht. Das ist so wunderbar aus der Zeit gefallen, dass man sich in seinem Film Auf die andere Seite tatsächlich dorthin träumen kann: In eine Realität, in der einen nichts anficht. Und sei es nur für 120 Sekunden.