Süddeutsche Zeitung

Kritik an BR-"Polizeiruf 110":Der hilflose Staat

Bei der Premiere auf dem Münchner Filmfest hatte der BR-"Polizeiruf" mit Matthias Brandt und Anna Maria Sturm nur mit technischen Problemen zu kämpfen. Nun schlagen Jugendschützer Alarm und wollen den Sendeplatz verschieben - wegen negativer Darstellungen des Staates. Eine Kritik, die wie Zensur wirkt.

Christopher Keil

Anfang Juli, beim Münchner Filmfest, zeigte der Bayerische Rundfunk auch die ersten beiden bisher noch nicht ausgestrahlten Folgen des neuen Münchner Polizeirufs. Neu, weil das Ermittlerteam neu zusammengestellt wurde. Matthias Brandt und Anna Maria Sturm werden von Herbst an als Hauptkommissar Hanns von Meuffels und Kommissarin Anna Burnhauser zu sehen sein.

Die öffentliche Vorführung von "Denn sie wissen nicht, was sie tun" - es wird in der Chronologie die zweite Episode sein - war von Schwierigkeiten begleitet. Immer wieder setzte der Ton aus, stoppte das Bild, und als noch etwa 15 Minuten verblieben, sagte Cornelia Ackers: Es werde abgebrochen. Sie kündigte eine Wiederholung an, das Eintrittsgeld solle man sich an der Kasse erstatten lassen. Ackers leitet beim BR die Abteilung für Familien- und Kinderspielfilm. Als Redakteurin ist sie auch und mit Erfolg verantwortlich für den Polizeiruf 110 des BR. Mit Erstaunen und Erleichterung musste sie feststellen, dass das Publikum im Kino trotz aller technischen Probleme zu ende schauen wollte.

Es gab hinterher viel Applaus, der Regisseur, Hans Steinbichler, bedankte sich auf der Bühne, auf die auch Matthias Brandt und Anna Maria Sturm gerufen wurden. Man könnte denken: eine ungewöhnliche, aber wohl gelungene Premiere für einen Fernsehfilm, der ja auch nicht ganz gewöhnlich ist. Er wird von Steinbichler, nach gewaltigem Beginn, auf Kammerspielformat gebracht, in dem Brandt als Hauptkommissar - vereinfacht ausgedrückt - mit einem religiös motivierten Selbstmordattentäter, einem Einzeltäter, konfrontiert ist. Eingangs erschießt sich noch ein Kinderschänder in von Meuffels Büro, sodass der überlegt, ob es die richtige Entscheidung war, sich nach München versetzen zu lassen. Als eine Bombendrohung eingeht, nimmt von Meuffels sie ernst. Von da an verlangsamt sich das Tempo, die Bombe zündet in einem Tunnel, in dem sich auch von Meuffels befindet.

Geplant war bisher, dass Steinbichlers Polizeiruf am 25. September um 20.15 Uhr gezeigt wird. Offizielle Pressebroschüren wurden bereits gedruckt und verteilt. Schauspieler Brandt soll in den kommenden zwei Wochen auf eine der üblichen PR-Tourneen gehen: Interviews, Fototermine. Ob sich daran etwas ändert?

Mit dem Datum "21. Juli" informierte der Fernsehdirektor des BR, Gerhard Fuchs, jetzt in einem internen Brief darüber, dass "Denn sie wissen nicht, was sie tun" auf "Empfehlung durch die Jugendschutzbeauftragte und nach Behandlung in der Direktorenkonferenz (. . .) nicht vor 22 Uhr ausgestrahlt werden" dürfe. Er, Fuchs, habe da so entschieden, "mit bestem Gruß". Was ist so drastisch dargestellt, dass die Jugend unter 16 Jahren geschützt werden und der Sendetermin verschoben werden muss?

Jugendschutzbeauftragte des Bayerischen Rundfunks ist Sabine Mader. Der BR bietet im Internet ihr Tätigkeitsprofil. Mader wird zitiert: "Bei den Redaktionen des BR ist ein ausgeprägtes Fingerspitzengefühl für den Jugendmedienschutz vorhanden. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk liegt die Wahrung des Jugendmedienschutzes in erster Instanz in den Redaktionen und ist dort gut aufgehoben."

Die Frage, die man sich nun stellt, lautet aber: Ist der Jugendschutz, was den BR betrifft, bei Mader in den richtigen Händen? In einer von ihr verfassten "Einschätzung" führt sie aus: Die Botschaften des Films, "Staat versagt komplett, keine klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse", seien geeignet, "Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren in ihrer Entwicklung zu beeinträchtigen. Daher ist eine Sendezeit ab 22 Uhr angemessen".

In einem Katalog zum Jugendmedienschutz wird aufgelistet, worauf die Jugendmedienschützer genauer schauen: auf "Verletzungen" (beispielsweise Tötungsszenen, offene Wunden, zerquetschte Unfallopfer), "bedrohliche Situationen" (wimmernde Opfer, ängstliche Schreie), "Körper, die in einer inhumanen und abnormalen Weise dargestellt werden", (explizite) "Sexualität", "faschistisches Gedankengut und Herrenmenschensymbolik", "explizite Gewaltausübung und Kriegshandlungen", "Naturkatastrophen" (Tsunamis, Tornados, einstürzende Häuser), Selbstschädigung (Koma-Saufen, Suizid) und "psychische Extremsituationen" (Mobbing, Inzestschwangerschaft, Geiselnahme).

Das allermeiste davon steht mehr oder weniger regelmäßig auf der Nachrichtenagenda und wird damit in News-Sendungen oder TV-Magazinen thematisiert. Ein Jugendschutzkriterium "Hilflosigkeit des Staates" existiert allerdings nicht. Genau das ist der zentrale Vorwurf, den die Jugendschutzbeauftragte Mader an Redaktion, Regie und Produktion von "Denn sie wissen nicht, was sie tun" erhebt.

In ihrer Beurteilung heißt es: "Der Staat ist hilflos, weder gegen den wegen sexuellen Missbrauchs eines Mädchens überführten Täter noch gegen den Selbstmordattentäter hat der Staat eine Chance. Beide sterben und ,gewinnen' damit, indem sie sich dem Staat erfolgreich entziehen können." Oder: "Die Polizei hat die Sache offensichtlich nicht im Griff". Oder auch: "Die Hilflosigkeit des Staates wird in den 'Tunnelszenen' fortgesetzt".

Die Botschaft "der Hilflosigkeit des Staates", so fasst Mader ihr Schreiben zusammen, "geht damit einher, dass der Film keine klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse bietet. Alle - bis auf den Kommissar -, die zur staatlichen Ebene gehören, werden mehr oder weniger als ,Hampelmänner', als Karikaturen gezeichnet: Bürokratische Hemmnisse, Kompetenzgerangel, persönliche Abneigungen, Staat kaschiert Fehler, die Kommissarin droht dem Attentäter Gewalt an".

Abgesehen davon, dass in Steinbichlers Polizeiruf niemand gewinnt, ist das eine beinahe absurde, auch weltfremde Jugendschutzauffassung. Wird nicht täglich in Staat und Gesellschaft kaschiert, gehemmt, gedroht, und muss man sich als öffentlich-rechtliches Programm nicht damit auch zur besten Sendezeit beschäftigen? Man kann den beanstandeten Kriminalfilm ja schlecht finden, seine Ästhetik der dunklen Bilder und seine Klischees. Für die Jugendschutzbeauftragte ist auch die inszenierte Wirklichkeitsnähe offenbar 20.15-Uhr-unzulässig. "Durch die realitätsnahe Darstellung mit intensiven Bildern (Dunkelheit, Rauch, Schreie, Tote, verletzte Menschen, denen Körperteile durch die Explosion amputiert wurden)" könne "starke Angst herbeigeführt werden". Die "Allianz-Arena und auch der Fußgängertunnel sind reale Orte, die ähnlich in jeder Stadt vorstellbar sind".

Wenn bemüht oder gelungen realitätsnahe, intensive Bilder ein Vergehen sind, müsste fast jeder Tatort indiziert sein. Maders Einlassungen wirken wie Zensur unter dem Etikett des Jugendschutzes. Und hat nicht der BR-Fernsehdirektor Fuchs früher ganz andere Filme um 20.15 Uhr genehmigt?

Hans Steinbichler sagte an diesem Sonntag auf Anfrage: Er sei sprachlos. Matthias Brandt teilte mit: "Mir war nicht bekannt, dass ich mit dem Auftrag arbeite, ein positives Staatsbild zu zeigen. Ich bin nicht staatsfeindlich eingestellt, und der Film ist es natürlich auch nicht, aber das kann nicht der Auftrag künstlerischer Arbeit sein."

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Quelle:
SZ vom 25.07.2011/cag
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