Krisenberichterstattung bei ARD und ZDF:Die gesteuerte Nachricht

Wenn sich eine Katastrophe ereignet wie jetzt in Japan, werden bei ARD und ZDF Hebel umgelegt. Ein Blick in die Krisenstäbe der Sender

Cornelius Pollmer

Claus Kleber steht in der Grotte und fischt nach Fruchtgummi. An der Wand hinter ihm versenden sich britische, japanische und amerikanische Kanäle. Auf einem der Bildschirme berichten Mainzelmännchen, wie spät es in der Welt ist. Um 23:14:26 Uhr deutscher Zeit entscheidet sich Kleber für den süßen Schnuller aus der Dose in der Mitte und benotet die Dienstagsausgabe des heutejournal. Viel Japan, ein bisschen Libyen, ordentliche Sendung. Einzig der Übergang am Ende war ein bisschen holprig. Aber, "wie sagt der Araber: Nur Allah ist perfekt". Noch ein Fruchtgummi für den Weg, und Kleber verlässt den Raum.

ZDF sendet Nachrichten aus virtuellem Studio

Die Welt und das Programm im Blick: So sieht beim ZDF die Regie des Nachrichtenstudios aus. Wenn ein Erdbeben und ein Tsunami wie in Japan eine Katastrophe auslösen, ziehen sich die News-Manager in Zimmer 2016 zurück. Sie nennen es die Grotte. Dort wird entschieden, wie und von wo aus das ZDF berichtet.

(Foto: dpa)

Nachtruhe kriecht in das Sendezentrum des Zweiten Deutschen Fernsehens in Mainz, die Grotte wird sie nicht erreichen. Die Grotte ist der Krisenredaktionsraum des ZDF. In Zimmer 2016 gibt es Antworten auf die Frage, was Kriege und Katastrophen wie die jetzt in Japan in den Nachrichtenzentralen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens auslösen.

"Nach dem 11. September 2001 waren wir über Monate im Schlachtmodus, und da wurde uns klar, dass wir eine zentrale Einheit brauchen", sagt Elmar Theveßen, Leiter der Hauptredaktion Aktuelles und stellvertretender Chefredakteur des ZDF. Beim Irakkrieg 2003 lief die Berichterstattung erstmals in der Krisenredaktion zusammen, rund um die Uhr, in einem zunächst fensterlosen Raum: der Grotte. Ein halbes Dutzend Mal wurde das Krisenzentrum seitdem gebraucht: Erdbeben in Haiti und Pakistan, Proteste in Iran, Tsunami, Libyen, Japan. In der Grotte sammeln Chefs vom Dienst redaktionelle Aufträge für die Korrespondenten, Mitarbeiter der Produktion buchen Flüge und Leitungen, es gibt Arbeitsplätze für Redakteure von Fernsehen und Online. "Das Stresslevel ist hoch, vor Kabinenfieber ist man nie gefeit", sagt Theveßen. Und daran wird sich - mit Blick auf Japan, die arabische Welt, die Eurokrise - in nächster Zeit nicht viel ändern: "Momentan habe ich das dumpfe Gefühl, dass wir die Grotte gar nicht mehr zumachen können."

Wenn die Welt wieder einmal aus den Fugen gerät, dann flackert die Unruhe in der Krisenredaktion. Sie flackert seit dem Aufstand in Tunesien Anfang Januar ohne Pause, und seit Freitag vor einer Woche flackert sie noch kräftiger.

Man kann dieses Flackern zum Beispiel in den Augen von Johannes Hano sehen. Der Ostasien-Korrespondent des ZDF ist in Peking stationiert. Er hielt sich zufällig, nur wegen eines Vortrags, in Tokio auf, als die Erde zu beben begann. Seither steht er da und blinzelt übermüdet. In Japan graut der Mittwochmorgen, und Hano kämpft sich überdreht, doch überraschend gut sortiert durch die journalistische Afterhour. In den zurückliegenden fünf Tagen hat er zehn Stunden geschlafen.

Telefonat mit der Grotte

Nach einer Schalte telefoniert Hano mit der Grotte: Er würde sich gerne eine Hose kaufen, aber er kommt nicht dazu. Er fragt, ob es eine Geigerzähler-App fürs iPhone gebe. Er sagt: "Ich weiß gar nicht, was ich noch sagen soll. Der Akku geht dramatisch runter." Sein Akku. Die Chefin vom Dienst bietet ihm an, ein wenig zu schlafen. Doch dann gibt es wieder ein Feuer in Fukushima, Reaktor 4, und natürlich schaltet heute nacht jetzt "live zu unserem Korrespondenten Johannes Hano nach Tokio". Zwei Stunden später steht die nächste Schalte. Und wenn man tags darauf nach Hamburg fährt, zu ARD-aktuell, dann grüßt im Büro der Chefredaktion aus einem der vielen Monitore: Johannes Hano, jetzt live aus Osaka. Er hat Zeit gefunden, in den Flieger zu steigen und das Hemd zu wechseln.

Auf dem Fernseher neben ihm leuchtet Philipp Abresch auf, der ARD-Korrespondent, live aus Tokio. Darunter zeigt n-tv immer wieder die Explosion in einem der Reaktoren, die Bilder sind zwei Tage alt. Korrespondenten von CNN und BBC quasseln stumm durcheinander, der japanische Sender NHK schwenkt aus der Ferne am Kraftwerk FukushimaI vorbei. Bilder überschlagen sich, überall reden Menschen, es brennt, raucht, und der Echtzeit-Journalismus läuft weiter und weiter. Da kann in Japan passieren oder auch nicht passieren, was will.

"Mich stört", sagt Kai Gniffke, Erster Chefredakteur von ARD-aktuell, "dass bei so vielen Programm-Metern manchmal die Empathie ein wenig auf der Strecke bleibt, auch bei mir." Denn "egal, was auf der Welt passiert, es wird natürlich durch die professionelle Brille gesehen. Alle fragen sich: Bist du schnell genug? Hast du die richtigen Bilder? Die richtigen Experten?" Gniffke nennt diesen Wettlauf ein "Rattenrennen", und meistens gebe es dabei nur Verlierer. Jene, die als Erstes berichten, würden kritisiert, weil sie berichten, obwohl es noch keine gesicherten Informationen gibt. Jene, die als Zweites berichten, würden kritisiert, weil sie alles verschlafen haben. Und beide bekommen in Deutschland fast reflexartig vorgehalten, dass CNN und BBC sowieso alles besser machen. Manchmal stimmt das.

Bisweilen bekommen Gniffke und Thomas Hinrichs, der Zweite Chefredakteur, Besuch von Kollegen aus Amerika, China, Frankreich. Wenn dann die Tagesschau auf Sendung geht, stellen sie immer dieselbe Frage: Aus welchem Jahrzehnt ist das?

"Bei einer Katastrophe suchen sie bei CNN kurz auf der Karte, wo das Land liegt, und schicken 30 Leute los. Das ist sicher beeindruckend, wenn die mit dem Bus vorfahren, aber damit sehen sie nur am ersten Tag besser aus", sagt Hinrichs.

In acht Minuten auf Sendung

Glanz und Wucht der internationalen Networks setzen deutsche Nachrichtenleute wie Gniffke "mühevolle journalistische Kleinarbeit" entgegen. Vermutlich hat die mit Gebühren finanzierte Information von ARD und ZDF im weltweiten Vergleich tatsächlich inhaltliche Vorzüge. Doch der Druck ist auch für die Deutschen größer geworden. "Heute bekommen sie innerhalb von Minuten Bilder von praktisch jedem Punkt der Erde", sagt Gniffke. Früher wurden die Filmkassetten mit Aufnahmen eingeflogen, die Redaktion hatte ein bisschen Ruhe, Material zu sichten und zu bewerten, bevor es ausgestrahlt wurde. Heute gehen auch ARD und ZDF die langen Sendestrecken mit, sie verwechseln dabei mal Mikrosievert mit Millisievert oder berichten zuweilen von einer Lage, die sich entweder "immer weiter zuspitzt" oder "angespannt bleibt". Das klingt selbst dann nach breaking news, wenn kein neuer Sachstand vorliegt.

Bei Katastrophen ist die Nachfrage der Zuschauer nach Bildern und Berichten immer höher, als das Angebot an dichter Information überhaupt sein kann. Wie reagieren Männer wie Gniffke oder Theveßen darauf? Wie nehmen sie strukturell und personell Einfluss?

Strukturell ist das öffentlich-rechtliche Fernsehen auf Katastrophen vorbereitet - so weit das geht. Beim ZDF gibt es einen Alarmplan, "so dass wir in acht Minuten auf dem Sender sein können", sagt Theveßen. Einen solchen Plan gibt es auch bei der ARD, und mit der Einrichtung des Infokanals EinsExtra wurde "ein atmendes Gefäß geschaffen, das problemlos auch mal länger senden kann", sagt Gniffke. "Im Prinzip brauchen wir nur den Hebel umzulegen."

In ein paar Wochen soll Online zudem "sehr organisch" integriert werden. Die Redaktion von tagesschau.de zieht in Rufnähe zur Fernsehredaktion. Gerade richten sie bei ARD-aktuell ein Content Center ein, über welches "Inhalte aus dem Netz systematisch auch für das Fernsehen" ausgewertet werden. Über soziale Netzwerke sollen Videos und Bilder von Zuschauern beschafft werden, ARD-Mitarbeiter bald Smartphone-Videos liefern, Dokumentare die Bildrechte prüfen und Techniker Formate so wandeln, dass sie kompatibel für das Fernsehen sind.

Es geht Gniffke darum, "mehr als nur Cross Promotion" zu machen: Bei ARD-aktuell sollen Fernsehen und Online wirklich verschmelzen. Zusätzliches Personal gibt es dafür nicht, man müsse sich die Leute "woanders rausschwitzen".

Gerade konzentrieren sich die Gedanken aber auf das Personal außer Haus. Die ARD hat nach dem Erdbeben in Haiti ein Krisenportal eingerichtet: eine Internetseite für die über die Welt verstreuselten Korrespondenten. Hier laufen Agenturmeldungen ein, Sendepläne können abgerufen werden, es gibt einen Chat und eine Übersicht, wer sich gerade wo aufhält und welche Ausrüstung dabei hat. Ein Ordnerbaum sortiert die Dateien zu den Krisen in Japan und im Nahen Osten, die Korrespondenten können darauf auch zugreifen, wenn ihr einziger Kontakt nach Hamburg eine schnöde Datenleitung ist.

Das Portal ist gedacht für Leute wie Ariane Reimers, die in den zerstörten Nordosten Japans reiste und, wie Thomas Hinrichs sagt, "in der Pampa übernachten muss. Vielleicht baut sie sich dort ein Zelt auf".

Beide öffentlich-rechtlichen Fernsehsender haben ihre Teams wegen Sicherheitsbedenken aus Tokio abgezogen. Wenn es in Fukushima zum Super-Gau käme, wären die Korrespondenten ungefähr 240 Kilometer südlich vor den Strahlen nicht sicher. Inzwischen ist auch Reimers nach Osaka zurückgekehrt, zu den zwei weiteren Fernsehkorrespondenten der ARD, die sich in Japan aufhalten. Sie arbeiten dort mit vier eigenen Teams und lokalen Hilfskräften. 30 Leute sind es allein für das Fernsehen.

In der Grotte beim ZDF buchen die Produktionsleute jeden Tag Flüge für Mitarbeiter und Angehörige, um diese jederzeit abziehen zu können. In die andere Richtung buchen sie ebenfalls Flüge, um den Teams Jodtabletten, Geigerzähler und Schutzkleidung zu bringen. Bis zu diesem Wochenende hält das Zweite noch zwölf Leute in Japan: vier Korrespondenten mit ihren Teams, alle halten sich lagebedingt im Basislager Osaka auf. Das Rattenrennen in Japan geht weiter.CORNELIUS POLLMER

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