Süddeutsche Zeitung

Krimi im Hörfunk:Polizeifunk

Seit 100 Folgen gibt es den "Radio-Tatort". Das sonst so experimentelle Genre Hörspiel hat sich ein massentaugliches Format geschaffen - Späße aus dem Münsterland inklusive.

Von Stefan Fischer und Katharina Riehl

Polizeiarbeit in Magdeburg muss zermürbend sein. Oberkommissarin Annika de Beer, gerade von einer Tagung in Sachsen zurück, hat keine Lust auf ihren Dienst. Vielmehr hegt sie grundsätzliche Zweifel am Sinn ihres Tuns. In dem Fall, den sie aufzuklären hat - ein Medienberater ist tot aufgefunden worden neben einer erheblichen Menge Drogen -, liest sie nicht einmal die Akte. Schon ihr Vorgänger Jost Fischer, der als Pensionär nach wie vor durch de Beers Radio-Tatort e des MDR geistert, hat sich durch seine letzten Dienstjahren gemauschelt, ohne sich mit seinem Job noch wirklich identifizieren zu können.

Annika de Beer, die von Nele Rosetz gespielt wird, flieht im Fall "Hundert von hundert" vor dem deprimierenden Alltag in eine Fantasiewelt. Sie hört sich Krimihörspiele an, alte Radio-Tatorte , und lamentiert: "Das sind die einzigen Polizisten, die beliebt sind, Krimipolizisten." So viel Selbstbegeisterung gönnt sich die ARD im hundertsten Radio-Tatort. Denn das mit der Beliebtheit gilt nicht nur für die sehr, sehr, sehr vielen deutschen Fernsehkommissare. Es gilt auch für die Radioermittler. Das liegt am Genre, natürlich. Vor allem aber hat der Radio-Tatort, eine Art Line Extension von Deutschlands beliebtester Krimireihe, sich seine Erfolgsprinzipien im Fernsehen abgeschaut.

Im Fernsehen läuft Til Schweiger mit der Panzerfaust herum, im Radio reicht noch die Pistole

Jeden Monat gibt es seit Januar 2008 einen neuen Radio-Tatort, damals hatte der SWR das Format erfunden. Das Hörspiel wird dann innerhalb einer Woche von allen Landesrundfunkanstalten der ARD gesendet - die kleinen Sender produzieren eine Folge pro Jahr, die größeren zwei. Die flächendeckende Ausstrahlung garantiert jedem dieser Hörspiele etliche Hunderttausend Zuhörer, exakte Zahlen werden im Radio nicht gemessen. Hinzu kommen etwa hunderttausend Menschen pro Monat, die die Krimis streamen oder herunterladen. Der große Erfolg der Podcasts hat sogar eine CD-Edition, die der Hörverlag in den Anfängen des Radio-Tatorts veröffentlichte, wirtschaftlich unattraktiv gemacht.

Die Radio-Tatorte sind, und das haben sie mit ihrem sonntäglichen Fernsehpendant gemeinsam, Mainstream. Das ist bemerkenswert, ist fiktionales Erzählen im Radio doch deutlich experimentierfreudiger als im Fernsehen. Für die Radio-Tatorte gilt das allerdings kaum: In der Regel sind es klassische Whodunits: ein Mord und am Ende des Falls ein Täter. Auch das Radio setzt beim Krimi auf Masse. Weil das fast immer funktioniert, sieht das deutsche Fernsehen heute so aus, wie es eben aussieht. Ziemlich mörderisch.

Die Fernseh- und die Hörfunk-Tatorte entstehen vollkommen unabhängig voneinander, doch wer die Stücke im Radio regelmäßig hört, kann an ihnen gut erkennen, wie sehr sich der Tatort im Fernsehen in den vergangenen Jahren verändert hat. Im Tatort des Ersten Deutschen Fernsehens läuft heute Til Schweiger mit einer Panzerfaust durch Hamburg, um die gesamte organisierte Kriminalität auf einmal wegzuballern. Dass Letztere überhaupt noch eine Chance hat, ist angesichts der ständigen öffentlich-rechtlichen Ermittlungen schon fast erstaunlich. Es geht um Mädchen- und Menschenhandel, um Flucht und Schleuser, um Umweltterroristen - es geht um die ganz großen Themen.

Im Radio-Tatort dagegen ist das Verbrechen überschaubar, es ist, auch wenn das kurios klingen mag angesichts von Mord und Totschlag: heimeliger. Eifersucht, Habgier, Verzweiflung sind die Motive. Es geht oft um kaputte Familien- und Geschäftsbeziehungen. Und die Krimis spielen häufiger noch als die Fernsehfälle in der Provinz. Weder München noch Frankfurt oder Köln sind Schauplätze, einzig die Fälle des RBB sind in Berlin angesiedelt. Der WDR hatte zwar anfangs die organisierte Kriminalität zum Thema gemacht, dann aber lieber ein Klamauk-Kommissariat im Münsterland erfunden, in dem seither strafversetzte Chaoten dilettieren, gespielt von Uwe Ochsenknecht, Hans-Peter Hallwachs und Sönke Möhring.

Der Mörder ist schnell gefunden: Nach 55 Minuten muss jeder Fall aufgeklärt sein

Das allerdings kommt auch dem Fernsehzuschauer dann wieder erstaunlich bekannt vor. So quotenerfolgreich wie die lustigen TV-Ermittler aus Münster sind ja bekanntlich die wenigsten Fernsehkommissare. Aber Mainstream kann eben nicht nur das Fernsehen.

Formal, immerhin, gibt es im Radio ein paar interessante Ansätze. So können die Fälle von Radio Bremen von der Kommissarin (Marion Breckwoldt) nie vollständig aufgeklärt werden. Der HR hat seit drei Jahren einen Kommissar Nebe (Sebastian Blomberg), der die Dinge mit sich selbst ausmacht. Entsprechend werden die Fälle weitgehend in inneren Monologen erzählt, was eine Spezialität aus Hessen zu sein scheint, wo Fernsehkommissar Murot (Ulrich Tukur) ein paar Jahre lang mit seinem Hirntumor plauderte. Der BR erzählt seine Dorfpolizisten-Krimis mit Brigitte Hobmeier und Florian Karlheim in den Hauptrollen als Provinzpossen, für die der Autor Robert Hültner ein fein überzeichnetes bayerisches Milieu erfunden hat.

Dass man sich im Radio noch häufiger auf die kleine Welt des Alltäglichen besinnt, hat auch einen simplen Grund: Allzu komplex können die hier erzählten Fälle schon deshalb nicht sein, weil sie in 55 Minuten erzählt sein müssen. Bei aller Spannung ist die Unterhaltung wichtiger als der Thrill. Dem Radio-Tatort ist damit etwas gelungen, was selten ist im deutschen Hörfunk: Er hat sich, auch mithilfe seines prominenten Fernsehpaten, als eigene Marke etabliert, er wird anders als die meisten übrigen Radiokrimis und viele ambitionierte Hörspiele öffentlich wahrgenommen.

In Magdeburg macht Annika de Beer das Radio irgendwann aus, in ihrem Fall hat ihr Vorgänger ihr geholfen. Der Radio-Tatort ist eben ein Solidarmodell.

Radio-Tatort, Bayern 2, 20.03 Uhr. Die weiteren Sendetermine unter www.radiotatort.ard.de

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Quelle:
SZ vom 15.06.2016
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