Kriegsverbrechen in Syrien:Das digitale Gedächtnis des Krieges

The Syrian Archive

Bilder wie dieses aus dem zerstörten Maaret a-Numan Krankenhaus sammelt das Syrian Archive.

(Foto: Screenshot: The Syrian Archive)

Weil Reporter kaum noch Zugang haben, werden private Handyvideos aus dem Bürgerkrieg immer wichtiger. Das "Syrian Archive" sammelt sie - um später Kriegsverbrechen nachweisen zu können. Ein Besuch.

Von Friederike Oertel

Binnen Minuten schlagen mehrere Bomben im Krankenhaus ein. Danach sind Teile des Gebäudes eingestürzt, Operationssaal und Intensivstation zertrümmert, Krankenhausbetten mit Staub bedeckt, Patienten geflohen. Es ist der 2. April 2017 im Maaret a-Numan Krankenhaus, eines der größten Krankenhäuser in der syrischen Provinz Idlib.

Festgehalten wurde die Szene in einem wackeligen Handyvideo. Hadi Al Khatib klickt einmal und verkleinert das Video auf dem Bildschirm seines Computers. Dann scrollt er weiter zum nächsten. Etwa 100 dieser Videos sichtet er jeden Tag, sie alle dokumentieren mögliche Kriegsverbrechen in Syrien, Al Khatibs Heimatland. Videos von Bombenangriffen, zerstörten Baracken, Zeugenaussagen, Gewalttaten des IS, des Assad-Regimes und anderen Kriegsparteien. Al Khatib sammelt sie zusammen mit Schriftstücken und Fotos in der 2014 von ihm gegründeten Internetdatenbank Syrian Archive.

Neben ihm sitzt sein Kollege Jeff Deutch, fünf weitere Teammitglieder arbeiten in Schweden, Dänemark und der Türkei. Ihre Hoffnung: Das Material soll eines Tages die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen vor einem möglichen Syrien-Tribunal unterstützen. Ob die Videos die Justiziabilität tatsächlich beeinflussen, ist offen. Bislang wird von Fall zu Fall entschieden, ob privates Videomaterial vor Gericht überhaupt berücksichtigt werden kann.

Doch schon jetzt steht fest: Die Sozialen Medien haben den Prozess der Kriegsberichterstattung und -aufklärung radikal verändert. In Syrien herrscht Krieg, ausländische Journalisten können sich im Land nicht frei bewegen. Doch anders als noch vor wenigen Jahren berichten heute nicht nur Kriegsreporter aus Konfliktgebieten. Auch viele Zivilisten dokumentieren das Geschehen mit der Handykamera, laden Fotos und Videos auf Youtube hoch, teilen sie auf Facebook und Twitter oder speichern sie auf PCs, Festplatten und USB-Sticks.

The Syrian Archive

Das Team des Syrian Archives (von rechts): Hadi Al Khatib, Jeff Deutch und Niko Para.

(Foto: The Syrian Archive)

"Es gibt mehr Stunden Filmmaterial über den syrischen Krieg, als es Stunden des Konflikts gibt", sagt Deutch. "Es ist die am meisten dokumentierte Krise der Menschheitsgeschichte". Der Krieg ist zum Film geworden. Er steht ungefiltert und in Echtzeit zur Verfügung. Doch sind die gezeigten Vorfälle auch beweisbar? Sind sie echt? Und wer soll das alles überprüfen?

Sind die Aufnahmen authentisch oder manipuliert?

Immer häufiger übernehmen diese Arbeit unabhängige Recherchenetzwerke wie das Syrian Archive, Syrians for Truth and Justice oder das britische Bellingcat, das durch seine Recherchen zum Absturz von Flug MH17 bekannt wurde. Seit Ende vergangenen Jahres sammelt auch die UNO Beweise für Kriegsverbrechen in Syrien.

Al Khatib hat Syrien bereits 2011 verlassen. In der Türkei hat er zunächst für die Organisation No Peace Without Justice Material über Menschenrechtsverletzungen gesichtet und für Anwälte und Journalisten verifiziert. "Ich war irgendwann extrem frustriert, weil beinahe täglich Material verloren ging", erinnert sich Al Khatib. Zum einen, weil die Dokumente unter teils prekären Bedingungen entstehen; Digitalkameras, Handys und Festplatten wurden beschädigt. Zum anderen, weil beispielsweise Youtube bereits hochgeladenes Material wieder von der Plattform entfernte. Schuld sind Algorithmen, die Propagandavideos von Terrororganisationen automatisch löschen sollen. "Darunter waren auch Videos, die womöglich bei der Aufklärung von Kriegsverbrechen helfen könnten", sagt Al Khatib.

Doch gelöschte Videos sind bei weitem nicht die einzige Herausforderung. Denn so essenziell die Nutzerfreundlichkeit von Plattformen wie Youtube für die Arbeit des Syrian Archives auch ist, so viele Risiken birgt sie: Zum einen kann nicht sichergestellt werden, ob die Aufnahmen tatsächlich authentisch sind oder möglicherweise manipuliert wurden. Zum anderen ist das Material aus dem Kontext genommen. Der Krieg ist in viele kleine digitale Splitterstücke zersprungen und auf verschiedenen Kanälen verstreut. Ein Puzzle der Gewalt, das erst wieder zusammengesucht und zusammengesetzt werden muss.

Für Al Khatib war klar: Eine Plattform mit eigener Infrastruktur musste her. Eine Plattform, die Inhalte sicherstellt und verifiziert. Eine ordnende und einordnende Instanz. Als der Syrer 2014 nach Berlin zog, änderten sich die Rahmenbedingungen und er begann, das Syrian Archive anzulegen. Es ist ein Open-Source-Projekt. Das heißt, alle Daten sind frei zugänglich, so dass Menschenrechtsorganisationen, Journalisten, Historiker und Anwälte darauf zugreifen können. Zunächst arbeitete Al Khatib in seiner eigenen Wohnung in Berlin-Neukölln. Doch "diese Videos täglich in den eigenen vier Wänden zu sichten, war keine gute Idee", sagt er rückblickend. Es sei ein belastender und teilweise traumatisierender Job. Mittlerweile hat er sein Büro in den Wedding verlegt. Die Räume sind hell und steril, und bis auf ein paar weiße Schreibtische mit modernen Computerbildschirmen kaum eingerichtet.

Ob es jemals zu einem Prozess kommt, ist unklar

Der Prozess der Verifizierung ist kompliziert und zeitaufwändig: "Wir haben um die 600 000 Videos gesammelt, überprüfen konnten wir bisher nur etwa 5 000", so Deutch. Das Team schöpfe dabei aus einem Pool von rund 900 Quellen. Zunächst wird die grundsätzliche Brauchbarkeit des Materials überprüft. Wann ist der Vorfall passiert und wann ist das Video entstanden, passt das zusammen? Wie sieht die Umgebung aus, entspricht sie den Bedingungen vor Ort? In einem zweiten Schritt folgen Detailfragen: "Werden Videos einer Quelle immer in der gleichen Region hochgeladen, erhöht das die Glaubwürdigkeit", so Deutch. "Schwankt der Ort des Uploads zwischen den USA und der Türkei, handelt es sich vermutlich nur um eine Sammelstelle für User Generated Content".

Nächster Schritt: Geolocation. Dafür werden Videos mit Satellitenbildern von Google Maps und Digitale Globe verglichen. Infrastruktur, Berge, aber auch Häuser dienen als Ortsmarken. Danach heißt es: Aussortieren, ordnen, zusätzlich Experten befragen. Der langwierige Prozess der Verifizierung zeigt, dass der digitalisierte Krieg kein Puzzle mit einer festen Anzahl an Teilen ist. Manche fehlen, andere sind Fake und wieder andere gibt es in mehrfacher Ausführung. Durch das Ordnen der Daten wird der Krieg quantifizierbarer, verortbarer.

Al Khatib blickt zurück zum Bildschirm und klickt auf den Reiter "Investigations". Dort trägt das Team Material zu wichtigen Vorfällen zusammen und rekonstruiert die Ereignisse. Zum Beispiel eine Serie von Angriffen auf medizinische Einrichtungen, zu der auch die Attacke auf das Maaret a-Numan Krankenhaus gehört. Das Team wählt, ähnlich wie ein Staatsanwalt, wichtige Beweise aus und bringt sie in einen narrativen Zusammenhang.

Gelten Videoaufnahmen vor Gericht tatsächlich als Beweis?

Zusätzlich arbeitet das Syrian Archive mit Organisationen zusammen, die mittels moderner Radar- und Satellitentechnik die Flugbewegungen von Maschinen ermitteln, die sich zum Zeitpunkt des Vorfalls im Luftraum aufhielten. "Hier zum Beispiel zirkulieren russische Flugzeuge über dem Areal", sagt Deutch und zeigt auf ein Video, "aber das heißt nicht, dass der Angriff von Russland geflogen wurde. Auch die syrische Luftwaffe nutzt russische Flugzeuge. Dann müssen wir schauen, wo die Maschine gestartet ist und von wem der Flughafen gesteuert wird". Außerdem würden Bilder von gefundenen Waffen analysiert, Herkunft und Hersteller ermittelt. Für sich beweisen die einzelnen Dokumente noch nichts. Erst aus der Summe der Teile ergibt sich ein Bild. Aber selbst eine drückende Beweislast bedeutet noch nicht, dass Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden können. Das Syrian Archive leistet zunächst einmal nur Vorarbeit. Ziel ist es, die Dokumente später an eine Recht sprechende Institution übergeben zu können.

Ob es je zu einem Prozess kommt, weiß niemand: Im Falle Syriens wäre sie Aufgabe des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag. "Doch zum einen ist Syrien kein Vertragsstaat, zum anderen verhindern Russland und China mit ihrem Veto, dass sich der ICC mit Syrien befasst", erklärt Deutch. Hinzu kommt: Im Vergleich zu anderen Gerichten habe der ICC bisher sehr wenige Fälle bearbeitet. Die Verfahren sind langwierig, die Beweisaufnahme schwierig. Deshalb suchen Al Khatib und sein Team nach Alternativen. Beispielsweise sei die Zusammenarbeit mit Gruppen wie dem ECCHR, dem European Center for Constitutional and Human Rights e.V., ein wichtiges Ziel für die Zukunft.

Bleibt die Frage, ob die Videoaufnahmen vor Gericht tatsächlich als Beweismittel gelten. Al Khatib ist auch hier zuversichtlich. Es gebe bereits Fälle, in denen Verbrecher auf Basis von Videomaterial verurteilt wurden. Ein Beispiel ist der Prozess gegen Mahmoud Mustafa Busayf Al Werfalli, der in Libyen Kommandeur der Al-Saiga Brigade gewesen sein soll, die Teil der Lybischen Nationalen Armee war.

Hadi al Khatibs Projekt zeigt, wie Menschen sich mithilfe der Technik ein Stück Kontrolle zurückerobern. Was zunächst nur Gräueltaten in wackeligen Bildern sind, wird im Syrian Archive zum digitalisierten Gedächtnis des Krieges. Ein Gedächtnis, das dank einer steigenden Anzahl Bürgerjournalisten auch Missstände aufzeigt, die sonst nie an die Öffentlichkeit gelangt wären.

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