Süddeutsche Zeitung

Kommunikation im Web:Geschlossene Gesellschaft

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Private Chats und Messenger können eine Dynamik auslösen, die man von außen nicht sieht, die aber politisch äußerst brisant werden kann. Über den Aufstieg von "Dark Social".

Von Dirk von Gehlen

Es gibt ein Phänomen, das die Gelbwesten in Frankreich, den Wahlsieg des rechtsextremen Jair Bolsonaro bei den Präsidentschaftswahlen in Brasilien und den Klassenchat der eigenen Kinder miteinander verbindet: Das Phänomen heißt "Dark Social" und fand bisher nicht nur wegen seines düsteren Namens wenig Beachtung in der Öffentlichkeit. Es ist das Schlagwort für jene von außen kaum einsehbare Form von Internet-Traffic, der über persönliche E-Mails, geschlossene Gruppen in sozialen Netzwerken oder Messenger-Dienste wie Whatsapp oder Telegram entsteht.

In Brasiliens Wahlkampf verbreiteten Agenturen gezielt Falschmeldungen über Whatsapp

Diese Kanäle gelten als "dunkel", weil Betreiber von Webseiten nicht sehen können, woher die Besucher ihrer Seiten genau kommen, wenn diese in solchen nur gefühlt privaten Räumen auf einen Link geklickt haben. "Dark Social" wurde als Schlagwort zum ersten Mal im Jahr 2012 von dem amerikanischen Journalisten Alexis C. Madrigal verwendet - als Gegenbegriff zu dem Traffic, den Websitebetreiber sehen, wenn Nutzer über eine Google-Suche auf eine Seite kommen oder weil sie zum Beispiel auf Twitter auf einen Link geklickt haben.

Seit 2012 wurde - wie zuletzt nach dem Social-Media-Rückzug von Grünen-Chef Robert Habeck - viel über Twitter und Facebook und deren Wirkung auf die öffentliche Debatte diskutiert. Dabei ist den dazu bekannten Studien zufolge der Anteil des dunklen Traffics enorm gestiegen, ohne dass es größere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. Vieles spricht dafür, dass die Bedeutung von Dark Social noch steigen wird. Diese auf den ersten Blick harmlos wirkende Form der persönlichen Kommunikation wird zu einer gesellschaftspolitischen Herausforderung.

Der Grund dafür ist, dass sich das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit im Web verändert. Denn der Austausch von Informationen und Links in Kurzmitteilungen ist gerade deshalb so bedeutsam, weil er praktisch unter Ausschluss dessen stattfindet, was klassisch als Öffentlichkeit gilt.

In den dunklen Kanälen gibt es selbst bei hochpolitischen Themen kaum sichtbare politische Akteure, Menschen mit anderer Meinung oder gar politische Debatten. Dort schreiben Nutzer in erster Linie mit vertrauenswürdigen Nachbarn oder politisch Gleichgesinnten. Das ist persönlicher Austausch, der sich nie nach Öffentlichkeit anfühlt. Und doch sind diese Mitteilungen und Chats zu mächtigen Werkzeugen auch der öffentlichen Kommunikation geworden.

Anders als die öffentlichen und oft als bezahlt markierten Beiträge in offenen sozialen Netzwerken wirken die "dunkel" verbreiteten Links und Botschaften höchst privat und deshalb besonders glaubwürdig. Viele denken: Was von einem Freund kommt, ist vertrauenswürdig. Diese Tendenz der sozialen Medien wird in den privaten und somit nach außen hin geschlossenen Räumen noch verstärkt.

Dass teils blindes Vertrauen in Web-Kommunikation zu Problemen führen kann, haben Münchner in der Nacht des Amoklaufs vom Olympia-Einkaufszentrum bemerkt, in der viele Gerüchte auch über Chats und private Gruppen verbreitet wurden. So entstand Panik in der Stadt, die eine auch für die Nutzer recht dunkle Seite von Social Media offenlegte: Die Kanäle können Kräfte und Dynamiken freisetzen, die äußerst mächtig sind und nicht unbedingt auf Fakten beruhen müssen.

Diese Dynamik führte an jenem Tag zu Panik, ohne dass sie jemand gesteuert hätte. Mittlerweile setzen viele Gruppen und Organisationen diese Machbarkeit von Dynamik allerdings gezielt für ihre Zwecke ein. Manche sogenannte Influencer nutzen zum Beispiel Gruppen in Telegram, um ihre Beiträge auf Instagram schnell populär zu machen: Sie weisen einander auf neue Fotos hin und klicken dann möglichst schnell "Gefällt mir", um den Algorithmus des Fotodienstes auszunutzen.

Nutzer wissen oft nicht, welche Wirkung ihre Kettenbriefe in privaten Chats haben können

Aber auch politische Kommunikation findet mittlerweile mithilfe von privaten Chats statt. Das Aufkommen der Gelbwesten-Bewegung soll in beträchtlichem Maß durch private Gruppen auf Facebook organisiert worden sein, in denen sich private Nachbarschaften verbunden haben. Weite Teile des brasilianischen Präsidentschaftswahlkampfs sollen über den im Land äußerst populären Dienst Whatsapp geführt worden sein. Jedenfalls deckte die Zeitung Folha de São Paulo auf, dass der mittlerweile gewählte rechtsnationale Kandidat Jair Bolsonaro mehrere Agenturen beauftragt haben soll, Falschnachrichten in die Kanäle von Whatsapp zu posten. Whatsapp hat keine Einsicht in die Chats seiner Nutzer, da diese stark verschlüsselt sind. Der Dienst reagierte nur langsam auf die sich rasant verbreitenden Falschmeldungen und handelte sich damit eine Menge Kritik ein. Es ist das Problem für klassische Kontrollinstanzen der öffentlichen Kommunikation: Diese Kanäle sind kaum von außen einsehbar und kaum zu kontrollieren. Viel wird über die Debattenkultur auf Twitter gestritten, auch Facebook sieht sich öffentlicher Kritik ausgesetzt für seinen schlechten Schutz von Nutzerdaten und die mangelnde Bereitschaft, Falschmeldungen im Netzwerk zu löschen. Dagegen blieb Kritik an der Facebook-Tochter Whatsapp in Deutschland fast ungehört. Das Unternehmen führte im Sommer den "Weitergeleitet"-Hinweis ein, um sichtbar zu machen, wenn Mitteilungen und Links einfach nur von einem Chat in den nächsten weitergereicht werden. So soll der Nutzer erfahren, dass diese Botschaft nicht eigenhändig von einem Bekannten getippt wurde, sondern der sie übernommen hat. Dieses neue Feature ist auch als Antwort auf das wachsende gesellschaftspolitische Problem Dark Social zu sehen. Kritiker bezweifeln aber, dass der Hinweis ausreicht, um die Verbreitung von Falschmeldungen über Chats und private Nachrichten einzudämmen. Nutzerinnen und Nutzer müssten ein Bewusstsein dafür entwickeln, welche Wirkung ihre Botschaften und Kettenbriefe in privaten Chats in der Summe haben können. Und auf allen politischen Ebenen fehlt noch ein breiteres Verständnis dafür, dass Social Media mehr ist als nur der öffentliche Streit auf Twitter - sondern dass sich dort eine Öffentlichkeit entwickelt, die man nicht mehr sieht.

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Quelle:
SZ vom 17.01.2019
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