Journalismus:"Wir wollen Hoffnung geben"

Guardian editor-in-chief Katharine Viner holds the first edition of the new tabloid Guardian at its new printing site, Trinity Mirror Printing in Watford.

Katharine Viner hat den Guardian zielsicher aus der Krise geführt.

(Foto: ddp/intertopics)

Als Katharine Viner Chefredakteurin des "Guardian" wurde, schrieb das Blatt große Verluste. Aber sie hatte einen mutigen Plan - und eine Vision für die Zukunft des Journalismus.

Von Cathrin Kahlweit

Man ist ja, und das hier aufzuschreiben schmerzt natürlich, kaum noch positive Nachrichten von Traditionsmedien wie Zeitungen gewöhnt. Schlechte Zahlen, zurückgehende Anzeigenerlöse, die schwer kontrollierbare Macht von Großkonzernen wie Google und Facebook, die unaufhaltsame, Demokratien untergrabende Verbreitung von Fake News, ein US-Präsident, der Leuchttürme des Journalismus als "Feinde des Volkes" bezeichnet, die Gleichschaltung von Medien nicht mehr nur in Diktaturen - die Liste ist deprimierend lang. Man könnte mutlos werden, wenn man nicht so damit beschäftigt wäre, den Kopf über Wasser zu halten und so gut und anständig wie möglich seinen Job zu machen.

Und dann sitzt man in einem bunten, modernen Büro am Regent's Canal im Zentrum von London einer gut gelaunten Frau gegenüber, die gern und viel lacht, Optimismus ausstrahlt, sich über die winzigen Entenbabys freut, die unten im Kanal herumpaddeln, und die eine Erfolgsgeschichte zu erzählen hat. Ihre eigene - und die ihres Blattes, einer Zeitung. Oder, um präzise zu sein, eines Produkts, das mal vor allem eine gedruckte Zeitung war.

Katharine Viner ist seit vier Jahren Chefredakteurin des Guardian . Sie hat ein finanziell marodes Blatt übernommen und es, gemeinsam mit ihrem Team und ihrem CEO, wieder auf Erfolgskurs gebracht. Der Guardian schreibt, Stichtag April 2019, wieder schwarze Zahlen. 93 Prozent der Mitarbeiter gaben zuletzt in einer internen Befragung, die jährlich durchgeführt wird, an, sie seien stolz, in der Mediengruppe, zu der auch der Observer gehört, zu arbeiten. Viner, 48, ist also beliebt. Sie hat keine erkennbaren Dellen in ihrer Karriere, sie ist, auch das noch, sehr sympathisch. Mein Gott. Wie hat sie das geschafft?

Sie spricht nicht gern über sich selbst, "ich bin aus dem Norden, da tut man das nicht", aber es gibt da erkennbare Parallelen zwischen der Chefin und ihrem Blatt: international vernetzt und anerkannt, inhaltlich breit aufgestellt, linksliberal. Ach ja, und auch der Guardian kommt ursprünglich aus dem Norden Englands; gegründet wurde er in Manchester.

Viner wurde vor vier Jahren aus den USA zurückgerufen, wo sie die US-Ausgabe des Guardian generalüberholt hatte, nachdem sie vorher in Australien eine digitale Version des Blattes aus der Taufe gehoben hatte. Sie übernahm die Zeitung von ihrem Vorgänger, dem legendären, allerdings in Finanzfragen weit weniger disziplinierten Alan Rusbridger. Gekürt wurde sie in einem längeren Auswahlprozess, in dem sie sich gegen anfangs zwei Dutzend Mitbewerber durchsetzte und zudem ein eindeutiges Mitarbeitervotum erhielt. Sie traute sich das zu. Sie traute sich was.

Damals hatte das Traditionsblatt drückende Schulden. Zwar stand im Hintergrund der Eigentümer, der Scott-Trust, mit einer Milliarde auf der Bank, aber ein Blatt, das kein Geld verdient und sich nicht aus sich selbst heraus stetig erneuert, verliert auch bei den Lesern an Vertrauen, an Reichweite und an Einfluss. Und irgendwann verliert es sich selbst. Also wurde massiv gespart, Personal abgebaut, das Format verkleinert, alles so normal wie schmerzhaft. Die meisten Traditionsmedien in Großbritannien (wie auch in Deutschland) gingen zudem, um zu überleben, den Weg über eine Bezahlschranke, eine Paywall. Viner entschied sich, gemeinsam mit dem Chef der Guardian Mediengruppe, David Pemsel, für einen anderen Weg, sie ging ins Risiko. "Wir wollten kostenlos und erreichbar bleiben für jeden. Das entsprach unserem Ethos."

Die Alternative zur Paywall: Spenden und sogenannte Mitgliedschaften. Unter jedem Artikel stand anfangs, sinngemäß: Wir brauchen Hilfe. Wenn Ihnen gefallen hat, was Sie gelesen haben, spenden Sie. "Das war eine dramatische Botschaft", weiß Viner, "aber ziemlich erfolgreich." Jetzt habe man die Message geändert: "Jetzt sagen wir, dass wir weitermachen wollen. Und dass wir mit unserer investigativen Arbeit auch für die kostenlos und zugänglich bleiben wollen, die es sich vielleicht nicht leisten können. Das läuft übrigens noch besser."

Sie hatte einen Plan. Jetzt hat sie auch den entsprechenden Erfolg. Ein erstaunlicher Weg für eine, die als junge Frau dachte, Journalismus sei etwas für "Männer in Anzügen in der Londoner City". Für eine Lehrertochter aus York sei dieser Beruf irgendwie "unerreichbar" gewesen, bekennt sie. Aber dann gewann sie als junge Geschichtsstudentin in Oxford einen Wettbewerb und verantwortete eine Woche lang die Frauenseiten des Guardian. "Am Ende dieser Woche dachte ich immer noch, eine solche Karriere sei für mich zu weit weg." Aber dann nahm die Leiterin der Frauenseiten sie zur Seite und sagte, sie habe das richtig gut gemacht. "Es war wie eine Offenbarung für mich." Seither, betont Viner, bemühe sie sich, Kollegen - und vor allem Kolleginnen - immer auch das zu sagen, was doch eigentlich für alle sichtbar sei. Zum Beispiel: Du bist gut.

Sie ging zu Cosmopolitan, dann holte sie die Sunday Times, und schnell war klar: Sie wollte schreiben, klar, "der Beruf ist wie für mich gemacht. Ich bin schnell, kann Nebenaspekte sehen, Stimmungen lesen. Ich bin ein Allesfresser, wenn es um Informationen und Nachrichten geht." Aber noch lieber wollte sie redigieren. Entscheiden. Planen. Führen. Hatte, hat sie nie Zweifel? "Ich war nicht immer sicher, dass unser Experiment gut geht. Wir wurden ausgelacht, auch im Haus selbst gab es viele Zweifel. Aber man muss sich stellen. Chancen ergreifen. Die Welt frontal annehmen."

Es hat funktioniert. 1,35 Milliarden Seitenaufrufe allein im März, doppelt so viel wie vor drei Jahren, etwa eine Million "Unterstützer", viele sporadisch, mehr als die Hälfte über Mitgliedschaften. Sogar bei den Abos, derzeit sind es gerade mal 140 000, legt der Guardian wieder zu. Und: Er machte einen kleinen Gewinn, 800 000 Pfund, gegenüber 19 Millionen Pfund Verlust im vergangenen Jahr. Der Erfolg ist ein Gesamtpaket: Ein Teil der Einnahmen kommt aus der - nicht unumstrittenen - Kooperation mit Sponsoren wie der Gates-Stiftung. Aber mehr als die Hälfte des Umsatzes wird bereits im Online-Geschäft erwirtschaftet. Und zwei Drittel der Online-Leser kommen aus dem Ausland, zuletzt vor allem aus der EU; ihre Zahl steigt. Für 2020 hat Viner die nächste Erfolgsstory geplant. "Dann werden es zwei Milliarden Seitenaufrufe pro Monat sein. Ganz sicher."

Ganz sicher. Als hätte sie einen inneren Kompass, der nie zittert. Dabei weiß auch sie natürlich nicht, ob das Modell nachhaltig ist und alles so schön weitergeht. Oder ob die Leser irgendwann abwandern, müde werden und nicht mehr freiwillig Geld geben für eine kostenlose journalistische Leistung. Auch wenn diese Leistung ein breites Online-Angebot und Scoops bietet wie das Abhören von Promi-Telefonen durch Murdoch-Medien, das exzessive Datensammeln von Cambridge Analytica, die Enthüllung der Überwachungspraktiken der US-Geheimdienste durch Edward Snowden oder zuletzt den sogenannten Windrush-Skandal, in dem die Immigrationspolitik im Königreich seziert wurde.

Sind die Leser nicht irgendwann die Bettelei leid? "Wir betteln nicht. Wenn wir unsere Leser fragen, warum sie uns Geld geben, dann höre ich Tausende Male diesen wunderbaren Satz: Für guten Journalismus spende ich gern. Weil man uns vertraut und weiß, wofür wir stehen. Und man will, dass wir erreichbar bleiben."

Natürlich, das weiß auch sie, ist es neben Trump und dem Globus in der Dauerkrise vor allem der Brexit, der die Zahlen aufbläht. Ist ja kein Wunder; schließlich will die aufgeregte Welt sehr genau wissen, was vor sich geht auf dieser merkwürdigen Insel. Der international breit gestreuten Leserschaft gefällt zudem die Haltung des Blattes zur EU. "Wir sind klar gegen den Brexit", sagt Viner. "Aber wir wollen auch wissen, wie er geschah." Diese klaren politischen Positionierungen von Medien bis hin zur Parteinahme in Wahlen sind im angelsächsischen Raum weit üblicher als etwa in Deutschland; der Guardian, europäische Partnerzeitung der SZ, ist laut Statut explizit dem "liberalen" Journalismus verpflichtet. In Großbritannien ist das mittlerweile fast ein Alleinstellungsmerkmal.

Aber wie geht es weiter nach dem Brexit, der nicht nur Chaos, sondern auch Aufmerksamkeit und neue Leser bringt? Viner geht diese Frage ganz groß an, grundsätzlich. Sie glaubt an die wachsende gesellschaftspolitische Relevanz von Medien, sie hat, jawohl, eine innere Mission. Hat einen langen, engagierten Text über "die Mission des Journalismus in den Zeiten der Krise" geschrieben und darüber, wie Medien in die Zukunft hineinwirken können. Dass sie diverser, weniger elitär, grassrootiger werden müssen. Sie kann stundenlang über den Journalismus von morgen reden. Darüber, dass Print wohl bald ein Nischenprogramm ist, dass Medien eine eigene Identität brauchen, wenn sie überleben wollen. Dass sie viel mit den Lesern kommunizieren müssen, sich öffnen, existenzielle Fragen beantworten. Heimat bieten.

Ihr Kernsatz: "Wir wollen neue Prinzipien und Wege erkunden, wie die Gesellschaft sich im Sinne des Allgemeinwohls besser organisieren kann." Bis zur Predigt ist es nicht mehr weit. Aber genau das, findet sie, müssten Journalisten tun, die ihren Job ernst nehmen. "Überall auf der Welt macht sich politische Instabilität breit. Umwelt, Armut, Depression - bisweilen hatte man beim Lesen des Guardians das Gefühl, wir würden vor allem eine Ladung Schmerz offerieren. Aber unser Job ist, mehr anzubieten als Fakten. Wir wollen Klarheit und Fantasie, und wir wollen Hoffnung geben."

Das ist ihr Schlüsselwort: Hoffnung. Sie benutzt es häufig, es entspricht ihrem Wesen, ihrem Koordinatensystem. Zugleich rückversichert sie sich, ob ihre Botschaft auch nicht zu simpel klingt. Ihr gehe es nicht um naiven Optimismus, betont sie, sondern darum, "dass wir die Welt besser machen, eine Art Gegenmittel sein können gegen die Machtlosigkeit, die Menschen viel zu oft empfinden". So ist das, wenn man einen Kompass hat. Scheinbar beneidenswert einfach.

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