Süddeutsche Zeitung

125 Jahre "Jugend":Raus aus dem Kaiserreich

Die Zeitschrift gab nicht nur dem Jugendstil seinen Namen. Sie stand für den Aufbruch in eine neue Zeit.

Von Wolfgang Görl

Schon das Titelbild der ersten, im Januar 1896 erscheinenden Ausgabe signalisiert, dass man jetzt, gegen Ende des Jahrhunderts, zum Aufbruch in eine neue Zeit bereit sei, eine, in der es ebenso bildungsbürgerlich kultiviert wie jugendlich frisch zugehen soll. Der Illustrator Fritz Erler hat einen jungen Schlittschuhläufer gezeichnet, der in schneebedeckter Landschaft unter eisig klarem Nachthimmel einen Mistelzweig hochhält, erhellt von einer Fackel in der Linken des Sportlers, der in sonnengelber Flammenschrift das Wort "Jugend" entsteigt. Alles klar: Nicht dem Fin-de-Siècle-Weltschmerz will man verfallen, nein, man will heraus aus der frostigen Atmosphäre des von rauchenden Schloten und Profitgier benebelten Kaiserreichs, eintauchen in die Wärme des Frühlings und das junge Leben feiern, seine Anmut, seine Kraft, die Erotik.

Noch deutlicher wird das Programm auf der Titelseite des Hefts zwölf, auf dem der Zeichner Ludwig von Zumbusch zwei schöne Tänzerinnen präsentiert, die einen verhutzelten Greis über eine Wiese schwingen. Ganz schön frech, die Botschaft, aber nicht alarmierend: Seht her, wir, die Jungen, geben den Takt vor. Doch wir sind keine radikalen Revolutionäre, das Alte schleppen wir gnädig mit.

Gründer der neuen Zeitschrift ist Georg Hirth, unter anderem Mitinhaber der liberalen Tageszeitung Münchner Neueste Nachrichten, ein patriarchalischer Verleger und Kulturmensch dazu, in dessen Haus Künstler wie Böcklin, Menzel oder Lenbach ein und aus gehen. Jugend - Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben nennen Hirth und der zum Redaktionschef gekürte Schriftsteller Fritz von Ostini das Blatt, dessen Konzept sie im Editorial der ersten Ausgabe mit saloppem Schwung den Lesern nahebringen: "Wir wollen alles besprechen und illustrieren, was interessant ist, was die Geister bewegt; wir wollen alles bringen, was schön, gut, charakteristisch, flott und - echt künstlerisch ist (...) Also! Vorwärts mit frischem Mut, 'JUGEND' sei's Panier!"

Dekorative Körper räkeln und winden sich, während im verträumten Blick etwas pikant Frivoles aufblitzt

Hirth hat hohe Ansprüche, vermutlich spukt ihm auch die ein knappes Jahr zuvor in Berlin gegründete Kulturzeitschrift Pan im Hinterkopf; in jedem Fall sollen für sein Blatt hervorragende Künstler und Autoren arbeiten. Als Förderer der Münchner Secession ist er bestens vernetzt, sodass es ihm nicht schwerfällt, Maler wie Franz von Stuck, Lovis Corinth oder Arnold Böcklin für seine Zeitschrift zu gewinnen. Genug junge Talente gibt es ohnehin, denn München und sein Boheme-Schwabing sind groß in Mode bei Künstlern, weshalb an jeder Ecke wirkliche und vermeintliche Genies neue Formen der Kunst und/oder des Lebens erproben. Von Anfang an begeistert die Jugend ihr Lesepublikum mit anspruchsvollen Layouts, man legt Wert auf preziös illustrierte Seiten und plakative Titelblätter, auf denen oft junge und schicke Menschen zu sehen sind, gestaltet in spielerisch verschnörkelten Linien und umflort von Blütendekor, mal in leichtstoffigen, dem Spiel des Windes folgenden Wallegewändern, mal nackt auf langmähnigen Pferden reitend, und es wimmelt nur so von Seejungfrauen und Sartyrn, deren dekorative Körper sich räkeln und winden, während im verträumten Blick etwas pikant Frivoles aufblitzt. Diese Ästhetik der geschwungenen Linien, der floralen Muster und pseudo-organischen Ornamente ist keine Erfindung der Heftgestalter, aber Hirths Zeitschrift gibt der Kunstströmung - zumindest in Deutschland - ihren Namen: Jugendstil. Der Verleger selbst ist darüber gar nicht so begeistert: "Ich habe mich lange Zeit dagegen gesträubt, dass man meine Zeitschrift, welche nach ihrer ganzen Tendenz Generationen überdauern soll, zur Lebensgefährtin eines vergänglichen Stiles mache - doch vergebens."

Hirths Ankündigung, alles zu bringen, was interessant sei, ist nicht sonderlich übertrieben. Die Jugend führt Debatten über Kunst und Literatur, bietet aufstrebenden Malern und Schriftstellern ein Forum und beschäftigt sich mit Politik und dem Zeitgeschehen, zudem mit Sport und Lebensgenuss. Dabei ist das Blatt weitaus moderater als der Simplicissimus, der ebenfalls vor 125 Jahren, im April 1896, in München Premiere feiert. Zwar nehmen beide Zeitschriften die Spießbürger, Geschäftemacher und Politiker der Gründerzeit aufs Korn, inklusive ihrer Vorliebe für altdeutsche Eichenmöbel, protzige Wohnzimmer und schneidige Militärmärsche, doch üben die Autoren und Zeichner der Jugend Rücksicht auf ihre Leserschaft, die vor allem aus urbanen, bürgerlich-liberalen Besserverdienenden besteht. Zu radikal, am Ende gar sozialdemokratisch soll es da nicht sein. Die Simplicissimus-Leute agieren mit weitaus spitzerer Feder gegen Moralapostel, Kapitalisten und Aristokraten bis hin zum Kaiser, was ihnen Anzeigen und Gefängnisstrafen einbringt. Wer für die Jugend schreibt oder zeichnet, arbeitet eher auf mittlerer Betriebstemperatur. Die Sticheleien gegen die herrschenden Kreise zielen weniger auf deren Gesinnung, als auf den Geschmack, auf den Biedersinn der wilhelminischen Bourgeoisie.

Beim Sex ist die Zeitschrift recht freizügig, ein Abgeordneter nennt sie "Schmutzblatt"

Dennoch gibt es ein Feld, auf dem Jugend beträchtlich aneckt. In puncto Sex ist die Zeitschrift recht freizügig, gerne zeigt man nackte Körper, das Chambre séparée gehört ebenso zur Ausstattung des Hefts wie die Faschingsfeier, und auch die laubstrotzende Natur muss als Rückzugsort flirtender und küssender Paare herhalten, wobei es vorkommt, dass deren Gewänder verrutschen und ein Stück Haut freigeben. Verleger Hirth, der ein Antiklerikaler vor dem Herrn ist, spricht gar vom Recht der Erwachsenen auf Erotik, womit er den Aufschrei aller Sittenwächter des Kaiserreichs provoziert. Ein Abgeordneter der katholisch geprägten Zentrumspartei beschimpft die Jugend im bayerischen Landtag als "Schmutzblatt", und beim "Internationalen Kongress zur Bekämpfung der unsittlichen Literatur" 1904 in Köln zählen die evangelischen Veranstalter Hirths Illustrierte zu den "Zeitschriften ekelhaftester und schlimmster Art".

Verderblicher aber als die Kritik der Sittlichkeitswächter ist der Nationalismus, der im Ersten Weltkrieg auch bis dahin kosmopolitische Künstler befällt. Statt blütenbekränzter Mädchen zieren nun Soldaten viele Titelseiten der Jugend, und in martialischen Gedichten wird zum Kampf aufgerufen "mit Welschen, Russen, Engelländern, diesen herz- und skrupellosen Schändern". Davon erholt sich die ehedem lässig mondäne Zeitschrift nicht mehr richtig. Immerhin, 1927 erlebt sie unter der Ägide von Franz Schoenberner noch eine letzte Blüte, während der Kurt Tucholsky und Erich Kästner frische Töne anstimmen und George Grosz Zeichnungen liefert. Im Kriegsjahr 1940 ist es endgültig vorbei mit der Jugend. Längst ist sie gleichgeschaltet, und was da verschwindet, ist nicht mal mehr der Abklatsch einstiger Grazie.

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