Süddeutsche Zeitung

Jubiläum:Große Freiheit

Die Gefangenenzeitung "Lichtblick" berichtet seit 50 Jahren aus der größten deutschen Haftanstalt - unzensiert und unbequem. Die Kritik der fünfköpfigen Redaktion gilt regelmäßig dem Justizsenator, der das Blatt trotzdem eine "Zierde" nennt.

Von Ronen Steinke

Die Zeitung Der Lichtblick berichtet aus dem größten Gefängnis Deutschlands, aus Berlin-Tegel, und wie andere Zeitungen auch hat sie verschiedene Rubriken. "Buchvorstellung", "Familie", "Recht", was man halt so erwartet bei einem Blatt, das von Gefangenen für Gefangene gemacht wird. Die wichtigste Rubrik aber heißt Ministerbeschimpfung. Sie ist ein bisschen inoffiziell. Sie heißt nicht wirklich so. Aber sie nimmt stets größten Raum ein.

Neulich wurde der für Gefängnisse zuständige Minister für Justiz, der in Berlin Senator heißt, auf der Titelseite als Schlange dargestellt. Der Grüne Dirk Behrendt ist seit 2016 im Amt. "Die falsche Schlange im grünen Gewand/In Berlin und Justiz bestens bekannt!" Gerade hatte Dirk Behrendt ein neues Sicherheitskonzept angeordnet, unter anderem sollten Zellen häufiger kontrolliert werden. Die Redaktion kommentierte: "Das ist der Punkt, an dem wir uns fragen, schreibt Behrendt den Schwachsinn selber oder bezahlt er dafür einen teuren Sachverständigen für Mental-Diarrhöe." Völlig unnütz sei das, reine Schikane. "Super, Dr. Dirk!"

So geht das Ausgabe für Ausgabe, vier bis sechs Mal pro Jahr. Berlin-Tegel ist eine der dreckigeren, dunkleren Haftanstalten der Republik. Große Männer müssen den Kopf einziehen, um durch uralte Türen zu kommen. Putz bröckelt, Metall rostet. Aber die Pressefreiheit, die den Gefangenen hier gewährt wird, kann sich sehen lassen. Bundesweit einmalig, gibt es die Zeitung seit genau 50 Jahren, in der Welt des Justizvollzugs entspricht das zwei Mal lebenslang mit besonderer Schwere der Schuld. Seit 50 Jahren ist der Lichtblick vor allem eines: unzensiert. Am Donnerstag wurde das mit etwas Justizprominenz gefeiert. Auch der Justizsenator kam dafür ins Gefängnis, und er nannte die Zeitung eine "Zierde" Berlins.

Die fünf Redakteure haben als Büro zwei Zellen. Über einen Telefon- und Internetanschluss dürfen sie mit der Außenwelt kommunizieren. "Läuferausweise" ermöglichen ihnen freien Zugang zu Mithäftlingen. Dabei sind ihre Berichte über Missstände nicht nur ein Mittel, um intern Druck abzulassen. Sondern auch, um draußen gehört zu werden. Viele der 5000 gedruckten Ausgaben finden Leser draußen in der Justiz, Politik und Wissenschaft. Ein Abo kostet nichts, dank Werbeanzeigen von Anwälten.

Es gibt ein Pin-up-Girl, meist eine halb Nackte in Strapsen, die an einer Zellentür posiert. Sexistisch finden das manche Politiker. Einen weiteren Titel, der den offen schwulen Justizsenator kürzlich als Comic mit nackten Brustwarzen zeigte, fand dieser homophob. Die Redaktion antwortete: "Uns als homophobe Truppe hinzustellen, mit der Sie kein Wort mehr wechseln werden, ist ein Armutszeugnis Ihrerseits und ein herabwürdigendes Statement für die gesamte schwule Community." Immerhin: Wenn man heute das Pin-up herauslöst, zeigt es auf der Rückseite auch einen durchtrainierten Mann.

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Quelle:
SZ vom 09.11.2018
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