Süddeutsche Zeitung

Journalistenschulen:"Für Starreporter ist da wenig Platz"

Lernen junge Reporterinnen und Reporter in der Ausbildung zu viel "Drehbuch"? Eine Nachfrage an Journalistenschulen nach dem Abschlussbericht im Fall Relotius.

Der Spiegel hat nach der Relotius-Affäre "Standards" veröffentlicht, in denen es unter anderem um die Rekonstruktion von Szenen oder Gefühlen in journalistischen Texten geht. Welche Werte werden an Journalistenschulen gelehrt, und wie reagieren diese auf die neuesten Entwicklungen? Die SZ hat bei sechs wichtigen deutschen Ausbildungsstätten für Journalisten nachgefragt. Auch bei der Hamburg Media School, an der Claas Relotius Schüler war. Bei dem dort angebotenen Master-Studiengang "Digital Journalism" ist das Verfassen von Texten (z. B. von Reportagen, Features oder Glossen), nicht Bestandteil des Lehrplans, betonte der Leiter Stephan Weichert.

Deutsche Journalistenschule

"Die Ausbildung an der DJS ist ein Privileg im besten Sinne: Bei uns dürfen die Schülerinnen und Schüler neue Erzählformen ausprobieren, von Meistern ihres Fachs lernen, sich selbst und andere hart kritisieren, einen eigenen Stil entwickeln und, ja, auch Fehler machen. Überragt werden diese Rechte von den Pflichten, die jedes Privileg zwingend mit sich bringt: die Verpflichtung zur Faktentreue, zur Offenheit, zur Transparenz, zur Fairness gegenüber den Menschen, die sich Journalisten anvertrauen. So lautete auch der Konsens unserer Reportage-Dozentinnen und -Dozenten, als wir uns vor ein paar Wochen zusammensetzten, um über die Relotius-Fälschungen zu sprechen. Aus mehreren Gesprächspartnern einen einzigen machen; Gedanken und Gefühle eines Protagonisten ohne Quellenhinweis nacherzählen - nein, solche Methoden gehören nicht in einen Reportagekurs an der DJS. Die Dozenten berichteten, die Schüler hier seien sehr skrupulös, was Rekonstruktion angehe. Dieser Ethos ist mir aus vielen Gesprächen vertraut. Er wird auch im Schulalltag gelebt, etwa beim Faktencheck der Magazine, die unsere Schüler produzieren. In DJS-Seminaren werden Recherchemethoden und Erzählstrategien erprobt und kontrovers diskutiert. Die Grenzen des Storytelling werden immer wieder thematisiert. Zwar ist gegen Betrüger niemand gefeit. Aber auch Journalisten, die sich der Wahrheit verpflichtet fühlen, überschreiten manchmal Grenzen. Dagegen hilft, dem Nachwuchs Mut zum kritischen Diskurs mitzugeben. Das tun wir." Henriette Löwisch, Schulleiterin

Evangelische Journalistenschule Berlin

"Selbstverständlich hat der Fall Relotius Auswirkungen auf die Ausbildung an unserer Journalistenschule. Die Dokumentation der Recherche und deren Transparenz bekommen einen deutlich wichtigeren Stellenwert. Der Fall wird natürlich auch in der EJS heftig diskutiert. Wir haben aber schon vor Relotius nicht die dramaturgische Zuspitzung, sondern die Wahrhaftigkeit als Kern unserer Ausbildung angesehen. Die Didaktik der Ausbildung, Themen und Schwerpunkte werden mit den Dozentinnen und Dozenten genau besprochen. Unsere Reportage-Dozenten sind ausschließlich erfahrene Reporterinnen und Reporter, mit denen wir seit Jahren vertrauensvoll zusammenarbeiten. Natürlich will jeder junge Reporter Aufmerksamkeit. Das ist legitim. Einen vermehrten Drang, deshalb die Wahrheit zu verbiegen, zu dramatisieren oder gar ein Elite-Denken kann ich nicht feststellen. Im Gegenteil, mir scheint gerade bei jungen Journalistinnen und Journalisten der Respekt vor der Darstellungsform Reportage sehr groß zu sein." Oscar Tiefenthal, Schulleiter

Katholische Journalistenschule IFP

"Mehr Sensibilität im Umgang mit der Wirklichkeit, dafür hat die Causa Relotius auf jeden Fall gesorgt. Dies gilt auch für die katholische Journalistenschule ifp. Unsere Schülerinnen und Schüler kommen wochenweise zu Seminaren ins ifp. Im Gepäck haben sie dann ihre Erfahrungen in der journalistischen Praxis, die sie unterdessen in den Redaktionen gesammelt haben. Spätestens seit der Diskussion um den Spiegel-Kollegen René Pfister und seine Reportage über Horst Seehofer und dessen Modelleisenbahn spüren wir eine stärkere Aufmerksamkeit: Was hat der Reporter selbst erlebt, was kennt er nur aus Berichten? Wir empfehlen den Schülerinnen und Schülern, sich viel Zeit für die Recherche zu nehmen, rauszugehen, selbst hinzuschauen und hinzuhören. Mehrere Personen zu einer Figur verdichten oder Gefühlen rekonstruieren sind Praktiken, die im Unterricht des ifp abgelehnt werden. Einen wachsenden Stellenwert hat die Dokumentation: Bewerberinnen und Bewerber schreiben eine Probereportage und reichen auch ein Rechercheprotokoll ein. Volontärinnen und Volontäre dokumentieren einzelne Schritte für ihr Rechercheprojekt. In der katholischen Journalistenschule ifp ist die Reportage nur eine von vielen möglichen Darstellungsformen. Die Abschlussarbeiten sind in den meisten Fällen multimediale Projekte mit einem Mix aus Texten, Fotos, Videos und Infografiken. Solche Projekte lassen sich nur im Team entwickeln. Für Starreporter ist da wenig Platz. Wichtiger noch: Im ifp verstehen wir den Journalismus als Handwerk. Elite-Denken stört da nur." Bernhard Remmers, Journalistischer Direktor

Henri-Nannen-Schule

"Es gibt keine Regeln für ,szenische Einstiege' an der Henri-Nannen-Schule. Was es gibt, sind Regeln für die szenische Darstellung innerhalb einer Reportage, egal ob es sich um einen Einstieg oder Ausstieg handelt oder um eine szenische Rekonstruktion. Die wichtigste Regel lautet seit jeher: Hast du die Szene nicht selbst erlebt, nenne deine Quelle! Das Gleiche gilt, wenn den Lesern die Gefühle und Gedanken von Protagonisten einer Geschichte vermittelt werden sollen. Wir möchten, dass unsere Lehrgänge bei Grundsatzfragen einheitliche Regeln genannt bekommen. Auch deshalb höre ich bei vielen Seminaren zu, sämtliche Lehreinheiten werden zudem von unseren Schülern evaluiert, mündlich und schriftlich. Für die Behauptung, dass 'immer wieder' Texte auf Kosten der Wahrheit ausgeschmückt werden, gibt es keine Belege. Ja, es gibt weithin bekannte Fälle, meist werden dann Tom Kummer und Claas Relotius genannt - aber wer daraus ein ,immer wieder' schnitzt, nutzt die gleiche Methode der belegfreien Verdichtung, wie sie die beiden Kollegen angewandt haben. Richtig ist, dass die Reportage stärker als andere journalistische Genres Freiräume für Verfälschungen bietet. Bis zum Beweis des Gegenteils gehe ich davon aus, dass die Tausenden Kolleginnen und Kollegen, die Reportagen schreiben, in ihrer übergroßen Mehrheit diese Freiräume nicht unzulässig ausnutzen. Wir wollen, dass die jungen Leute, die unsere Schule absolvieren, ausgezeichnete Journalistinnen und Journalisten werden. Das ist auch ihr eigenes Ziel. Wenn manche das eine elitäre Haltung nennen wollen: meinetwegen. Entscheidend ist, dass die Regeln eingehalten werden. Wer das nicht tut, sticht irgendwann tatsächlich aus der Masse heraus: als Fälscher." Andreas Wolfers, Schulleiter & Geschäftsführer

Axel Springer Akademie

"Der Spiegel deutet an, wie falsch die Ausbildung ganzer 'Generationen von Journalistenschülern' bei der Reportage gelaufen sei. Das ist ebenso pauschal wie falsch. Zumindest für die Axel Springer Akademie kann ich sagen: Nein, unsere Schüler lernen nicht das Verdichten von mehreren Figuren zu einer, um nur ein Beispiel zu nennen. Wir setzen uns im Unterricht mit diesen Fragen ständig auseinander. Mit der Gratwanderung zwischen journalistisch notwendiger Reduktion und verfälschender Wirkung. Und auch beim Thema Rekonstruktion haben wir immer eine klare Linie vertreten: Sie ist statthaft, aber nur wenn sie die Quellen transparent macht. Faktentreue und Wahrhaftigkeit sind die Grundpfeiler unseres Berufs, deshalb sind wir da sehr streng. Uns genügt bereits eine nachlässige Attitüde zu erkennen: ,Das ist an der Stelle nicht so wichtig', um uns von einem Dozenten zu trennen. Wahrhaftigkeit ist an jeder Stelle wichtig! Es kommt vor, dass Journalistenschüler übers Ziel hinausschießen und Dinge beschreiben, die sie nicht selbst erlebt haben. Aber dafür sind wir eine Journalistenschule: um von Anfang an deutlich zu machen, dass das nicht geht. Erzeugen Journalistenschulen durch ein Elite-Denken besonderen Druck auf ihre Schüler, aus der Masse herauszustechen? Mag sein. Ich kann darin nichts Verwerfliches sehen. Es wäre absurd, aus einem Leistungsgedanken - dem Streben nach journalistischer Exzellenz - die Aufforderung zu zweifelhaften oder gar illegitimen Methoden abzuleiten. Aus der Masse hervorzuragen ist wichtig, wenn man eben keine Massenware liefern möchte." Marc Thomas Spahl, Direktor

Hamburg Media School

Die Hamburg Media School bildet Studierende zu Medienmanagern, Filmschaffenden und Journalisten aus. Beim berufsbegleitenden zweijährigen Masterstudiengang "Digital Journalism" (Executive Master of Arts in Journalism) stehen online-basierte Recherche- und Storytelling-Methoden, partizipative Kommunikationsstrategien der Qualitätssicherung sowie medienethische Fragen im Mittelpunkt einer akademischen Weiterbildung. Kombiniert werden diese handwerklichen Kernkompetenzen mit redaktionellen Management- und Führungskenntnissen sowie einschlägigem Grundwissen aus den Bereichen Medienrecht, Medienökonomie und Medienpolitik. Das Verfassen von Texten - z.B. von Reportagen, Features oder Glossen - ist nicht Bestandteil des Lehrplans, auch gehört die Rekonstruktion von Ereignissen oder die Verdichtung von mehreren Figuren nicht zu den im Studiengang vermittelten Inhalten des digitalen Journalismus. Die von unseren DozentInnen angewandte Didaktik und Methodik unterliegt einer engen Abstimmung und, einem Vier-Augen-Prinzip folgend, der regelmäßigen Prüfung durch die Studiengangsleitung. Neben weiteren Qualitätssicherungsinstrumenten wird die Qualität und Sorgfalt in der journalistischen Weiterbildung an der HMS über Veranstaltungsevaluierungen kontinuierlich abgesichert. Wir stehen darüber hinaus mit unseren Dozierenden aus Wissenschaft und Praxis im regelmäßigen Austausch über die Standards einer sorgfältigen Überprüfung von Fakten; bisher gab es hierzu keine Veranlassung für Beanstandungen. Ebenso wenig erkennen wir in unserem Studiengang einen Trend unter Studierenden zur Literarisierung auf Kosten der Wahrheit; insbesondere wollen wir die Studierenden in der Lehre für ein professionelles Fact Checking und die Verifikation von Informationen sensibilisieren. Trotz des gewachsenen Anspruchs an die BewerberInnen legen wir in unserem bewährten Ausschreibungsprozess außerdem großen Wert darauf, keinen Druck auf potenzielle BewerberInnen auszuüben, um aus der Masse herauszustechen. Stephan Weichert, Leiter des Studiengangs "Digital Journalism"

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Quelle:
SZ vom 29.05.2019/tmh
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