Süddeutsche Zeitung

Journalismus:Warum es so schwierig ist, zu "Me Too" zu recherchieren

  • Recherchen über sexuellen Missbrauch stellen viele Journalisten vor neue Herausforderungen.
  • Ein Grund dafür: Sexuelle Übergriffe sind oft Vier-Augen-Delikte, bei denen nur zwei Menschen wissen, was wirklich passiert ist.
  • Das US-Medieninstitut Poynter hat eine Checkliste mit Orientierungshilfen veröffentlicht, die Journalisten bei ihren Recherchen helfen soll.

Von Charlotte Theile

Es ist kurz vor Mitternacht, die Frau am anderen Ende der Leitung erzählt seit fast drei Stunden. Immer wieder bricht sie ab, atmet minutenlang in die Nacht hinein. Die Details, die sie herausbekommt, sind genug, um die Verzweiflung durchklingen zu lassen. Sie erzählt die Geschichte eines Vorgesetzten, der sie auf einer Dienstreise mit in ein Hotelzimmer nahm und dort versuchte, sie zu vergewaltigen. Seit dieser Nacht sei so ziemlich alles schiefgegangen. Der Bürokollege, dem sie sich anvertraute, erzählte die Geschichte weiter, erst bekam sie Anteilnahme, doch bald drehte sich die Stimmung. Statt ihres Vorgesetzten bekam sie die Kündigung, heute streiten sich Gerichte um den Fall.

Auch wenn unklar ist, wie die Richter am Schluss entscheiden werden: Der Zwischenstand ist vielsagend. Die Frau am anderen Ende der Leitung ist ihren Job und ihren Ruf in der Branche los. Für den Mann, mit dem sie auf der Dienstreise war, hat sich nicht viel verändert. Über die frühere Angestellte ließ er verbreiten, sie habe schlechte Arbeit geleistet, er zeigte sie wegen falscher Verdächtigung an. Was wirklich passiert ist, wissen nur die beiden.

In fast jeder Branche gibt es eindeutige Spitznamen und offene Geheimnisse

Es ist eines von vielen Telefonaten, das die SZ in den vergangenen Monaten geführt hat. Seit in den USA unter dem Schlagwort "Me Too" über sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch am Arbeitsplatz diskutiert wird, sind in vielen Redaktionen Recherchen angelaufen. Schwierige Recherchen. Denn obwohl Journalisten daran gewöhnt sind, unangenehme Fragen zu stellen und gewagte Theorien zu überprüfen, stellt sexueller Missbrauch viele vor neue Herausforderungen.

"Zwischen Rufmord und Aufklärung" heißt eine der Veranstaltungen zum Thema, die in diesen Tagen bei der Branchenkonferenz "Netzwerk Recherche" diskutiert wird. Journalistinnen von Spiegel, Zeit und Correctiv berichten dabei von Recherchen des vergangenen Jahres - und den Kontroversen, die sie ausgelöst haben. Die Ausgangsposition ist fast immer die gleiche: Man ahnt, dass da vergleichbare Fälle in Krankenhäusern, Parlamenten, Redaktionen und Theatersälen sind. In fast jeder Branche gibt es eindeutige Spitznamen, offene Geheimnisse. Und es gibt Strukturen, die Belästigung und Missbrauch begünstigen: wenn sich, wie in manch einem Parlament, alle Macht beim Abgeordneten sammelt, oder es in einigen Theatern alltäglich ist, dass der Regisseur seine Schauspieler anschreit, bloßstellt und beleidigt. Wer hier nachfragt, hört Dutzende Geschichten. Doch dann wird es kompliziert.

Sexuelle Übergriffe sind oft Vier-Augen-Delikte. Zwei Menschen wissen, was wirklich passiert ist. Gleichzeitig gibt es überall da, wo es um Sex geht, schnell Gerüchte. Eine unübersichtliche Mischung, in der Journalisten schnell in einen Rollenkonflikt geraten. Mit Nachforschungen laufen sie Gefahr, Teil des Hörensagens zu werden.

Das US-Medieninstitut Poynter hat im November 2017, kurz nachdem die Vorwürfe gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein öffentlich geworden waren, eine Checkliste publiziert. Eine Hilfestellung für Redaktionen, die entscheiden müssen, welchen Geschichten sie nachgehen. An erster Stelle stellt sich die Frage nach der Wirkung, die Recherche und Enthüllung haben können. Poynter rät, dem Einfluss der beschuldigten Personen einen besonderen Stellenwert zu geben - also dort zu recherchieren, wo Machthaber und öffentliche Figuren unter Verdacht stehen. Dabei geht es nicht nur um Prominenz: Auch wer als Lehrer, Arzt oder Polizeichef großen Einfluss hat, solle besonders genau überprüft werden.

Die Schweizer Journalistin Michèle Binswanger hat zusammen mit einem Kollegen vom Tagesanzeiger im Dezember eine umstrittene Geschichte veröffentlicht. In dem Text "Chef der Zudringlichkeiten" ging es um einen bekannten Schweizer Boulevard-Journalisten. Binswanger sagt, die Richtlinien von Poynter seien Orientierungshilfe gewesen. "Trotzdem wurden wir für den Text in der Branche kritisiert."

Die Frauen schildern ihre Erlebnisse darin anonym, der Journalist wird namentlich genannt. Die Vorwürfe liegen mehr als ein Jahr zurück, und keine der genannten Zudringlichkeiten überschreitet die Schwelle zur Gewalt. Warum sich der Tagesanzeiger dennoch entschieden hat, den Text zu bringen? "Ich bin überzeugt, dass es richtig war", fasst Binswanger die Entscheidung der Redaktion zusammen. "Erstens hatten seine Zudringlichkeiten System, er hat jahrelang Frauen belästigt, auch sehr junge Frauen. Zweitens ist der Beschuldigte nach wie vor in einer leitenden Position, was einiges über die Firmenkultur aussagt. Drittens wollten wir Betroffenen zeigen: Das muss man sich nicht gefallen lassen."

Die Frauen, mit denen das Blatt gesprochen hatte, sind nicht nur jene, die eigene Erlebnisse zu berichten hatten. Zur Überprüfung haben die Journalistinnen mit Personen gesprochen, die nah an den Vorfällen dran waren. Etwa gesehen haben, wie eine Frau den Konferenzsaal verlassen hat oder aufgelöst ins Büro zurückkam. Dieser Faktencheck ist für die Opfer oft schwer zu ertragen. Weil er ihre Erzählung hinterfragt oder anders bewertet. Umso wichtiger, dass Journalisten offen vorgehen, von Beginn an klarmachen, dass kritische Überprüfung, Gegenmeinungen und, am Schluss, die Konfrontation des Beschuldigten unabdingbar sind.

Was passieren kann, wenn man das unterlässt, zeigt eine Geschichte, die das US-Magazin Rolling Stone 2014 veröffentlicht hat. Eine Studentin beschrieb darin eine Gruppenvergewaltigung auf einer Studentenparty auf dem Campus der Universität Virginia. Wenige Tage nach der Publikation fiel die Geschichte in sich zusammen. Der Rolling Stone musste sich entschuldigen und drei Millionen Dollar Entschädigung zahlen. Ein Anruf bei der Studentenverbindung hätte genügt, um festzustellen, dass am angeblichen Tat-Abend keine Party stattgefunden hatte. Die Frau, die sich der Redaktion anvertraut hatte, konnte sich jedoch mit ihrer Forderung, auf Konfrontation zu verzichten, durchsetzen. Ein Fehler, der das Misstrauen in Geschichten wie die ihre für viele Jahre nährt.

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Quelle:
SZ vom 27.06.2018/luch
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