Süddeutsche Zeitung

Journalismus:Das Mädchen "Jessica"

Ein Journalist recherchiert undercover im Pädophilen-Milieu und gibt seine Informationen an die Polizei weiter. Geht Opferschutz über Quellenschutz?

Stefan Ulrich

Laut dem Kinderhilfswerk Unicef sind im Internet 750 000 Pädophile auf der Suche nach Kindern unterwegs. Einer von ihnen soll ein Stadtrat der französischen Gemeinde Mesnil-Saint-Denis bei Versailles sein. Der Lokalpolitiker traf im weltweiten Netz auf die zwölf Jahre alte Jessica. Er umgarnte das Mädchen und vereinbarte mit ihr ein Rendez-Vous. Als er zum Treffpunkt kam, erlebte er eine Enttäuschung.

Jessica war in Wahrheit ein französischer Journalist. Der Reporter gab die Adresse und den Namen des Stadtrates an die Polizei weiter. Nun wird der mutmaßliche Pädophile vor Gericht gestellt. Wie dem Stadtrat erging es 21 weiteren Männern. Sie alle gingen dem Journalisten Laurent Richard in die Falle. Frankreichs Medien diskutieren nun, ob dies in Ordnung ist - oder ob es Presserecht und Berufsethos verbieten, dass Journalisten wie Undercover-Agenten und Polizisten agieren.

Richard und sein Team der Medienagentur Capa recherchierten ein Jahr lang unter Pädophilen. Sie präsentierten sich als "Jessica" in Internet-Foren für Jugendliche - und wurden prompt von hundert Erwachsenen kontaktiert. Einer schaltete seine Webcam ein, um sich davor zu befriedigen. Andere überredeten Jessica zu einem Treffen. Als Richard sich ihnen als Journalist offenbarte, erzählten sie erstaunlich bereitwillig von begangenen oder geplanten Missbrauchs-Taten. Später gab sich Richard selbst im Netz als Pädophiler aus und geriet an einen vorbestraften Sexualverbrecher in Kanada. Der Mann zeigte ihm Fotos, bei deren Anblick Richard Mühe hatte, sich nicht zu erbrechen. Auch der Kanadier plante neue Verbrechen. Wieder informierte Richard die Polizei.

Vergangene Woche wurde das Ergebnis der Recherche im französischen Staatsfernsehen im Rahmen der Enthüllungs-Reihe Die Eindringlinge ausgestrahlt. Die Sendung offenbarte, wie miserabel die Polizei und die Verantwortlichen von Jugend-Foren die Kinder im Internet schützen. Zugleich stellten die Autoren heraus, dass sie alle Pädophilen, die sie trafen, der Justiz meldeten. Seitdem können sich Richard und der Capa-Direktor Hervé Chabalier vor Kritik ihrer Kollegen aus den Medien kaum retten. Doch sie bekommen auch Zuspruch, vor allem von Lesern und Bloggern im Internet.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Laurent Richard zur Polizei ging.

Die ernsthaft und leidenschaftlich geführte Debatte dreht sich um zwei Fragen: Dürfen Journalisten ihre Identität verheimlichen, um in schwer zugängliche Milieus vorzudringen? Und dürfen sie Informanten der Justiz preisgeben? Auf keinen Fall, beantwortet der Presse-Rechtsanwalt Richard Malka die zweite Frage. Das Vorgehen von Richard sei erschreckend. "Entweder man hat einen Polizeiausweis oder einen Presseausweis. Aber doch nicht beides zusammen." Sonst müssten Journalisten auch in vielen anderen Recherche-Fällen ihre Zeit damit verbringen, Leute zu denunzieren.

Ähnlich sehen das die Journalisten-Gewerkschaften. Sie argumentieren: Wenn Journalisten ihre Quellen preisgeben, wird die Branche diskreditiert. Informanten trauen ihr dann nicht mehr. Missstände können nicht mehr aufgedeckt werden. Ein Journalist dürfe seine Identität nicht verschleiern, und er sei kein "Hilfspolizist", mahnt die Gewerkschaft SNJ. Besonders problematisch finden es die Kritiker, wenn Journalisten sich verstellten und Menschen zu Straftaten verleiten, um sie dann anzuzeigen und damit hohe Einschaltquoten zu erzielen.

Auch Richard und sein Produzent Chabalier nehmen den Informantenschutz ernst. Sie finden jedoch, in extremen Fällen müsse die Bürgerpflicht vorgehen, um schwerste Verbrechen zu verhindern. Chabalier nennt Terrorismus und sexuellen Missbrauch von Kindern. Richard sagt, er habe die Pädophilen der Polizei offenbart, um Kinder zu schützen. "Es war moralisch unmöglich, anders zu handeln. Wenn ich nach Hause gegangen wäre, ohne etwas zu verraten, hätte ich nie mehr ruhig schlafen können."

Schutz vor Verbrechern oder von Informanten? Das französische Recht gibt keine klare Antwort. Das Strafgesetzbuch verpflichtet die Bürger, die Justiz zu alarmieren, wenn sie von einem bevorstehenden Verbrechen erfahren. Diese Pflicht gilt nicht, wenn ein Berufsgeheimnis besteht, wie bei Journalisten oder Anwälten. Ein erst in diesem Januar in Kraft getretenes Gesetz bestimmt ausdrücklich, dass "für Journalisten in keinem Fall eine Pflicht besteht, ihre Quellen zu offenbaren". Sie müssen also nicht, aber sie dürfen. Doch sollen sie auch?

Der Blick ins Ausland hilft kaum weiter. In Deutschland hat der Schriftsteller Günter Wallraff die verdeckte Recherche zu seinem Markenzeichen gemacht. Mal trat er als türkischer Gastarbeiter auf, mal als Bild-Journalist. Nur: Er gab keine Informanten preis. Gleiches gilt für den italienischen Reporter Fabrizio Gatti, der sich als Bootsflüchtling ausgab, um menschenunwürdige Zustände in einem Auffanglager zu enthüllen. In den USA dagegen gibt es ein Vorbild für den französischen Fall: Dort zeigte der Sender NBC vor einigen Jahren Reportagen, bei denen Pädophile in das Haus eines vermeintlichen Opfers gelockt und dort von der Polizei erwartet wurden. Auch in Amerika gab es Diskussionen, ob Journalisten sich für so etwas hergeben sollten.

Letztlich muss das Gewissen des Journalisten entscheiden, ob er die Polizei einschaltet, wenn er durch einen Informanten von geplanten Verbrechen erfährt. Die Entscheidung zwischen Quellenschutz und Opferschutz kann zum Dilemma werden. Wer als Reporter seine Identität verschleiert und Menschen zu Verbrechen animiert, fordert dieses Dilemma heraus. Er wird jedoch argumentieren, die Welt von Terroristen oder Kinderschändern sei mit offenem Visier kaum zu erkunden.

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SZ vom 16.04.2010/leja
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