Journalismus:Schweizer Medienskandal in Endlosschleife

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Die Schweizer Ex-Politikerin Jolanda Spiess-Hegglin unterliegt vor Gericht gegen die Journalistin Michèle Binswanger. Über das neuste Kapitel in einem tragischen Streit.

Von Isabel Pfaff

Fast sieben Jahre. So lange ist dieser Abend in Zug her, diese rätselhafte Geschichte um die Politikerin Jolanda Spiess-Hegglin und den Politiker Markus Hürlimann, die damit endete, dass Spiess-Hegglin sich im Krankenhaus untersuchen ließ. Und die beispiellose mediale Schlammschlacht, die darauf folgte und bei der nie klar war, wer hier eigentlich Täter sein soll und wer Opfer.

Diese Nacht kurz vor Weihnachten hat viel bewirkt: Sie hat große Teile der Schweizer Medienbranche über Jahre beschäftigt. Die Politikkarrieren zweier Menschen wurden zerstört. Gerichte sind immer noch mit den Folgen befasst. Aber vor allem hat diese Nacht die Fronten zwischen zwei Frauen derart verhärtet, dass ihr Streit nun schon seit Jahren die Schweizer Öffentlichkeit spaltet.

Da ist auf der einen Seite Jolanda Spiess-Hegglin, die Ex-Politikerin und heutige Aktivistin, die seit ihren Erlebnissen rund um die Landammannfeier in Zug gegen Hass im Netz und gegen Persönlichkeitsverletzungen durch Medien kämpft - oft lautstark und mitunter polemisch. Und da ist Michèle Binswanger, Journalistin beim Tages-Anzeiger, jener Zürcher Tageszeitung, die zum Verlagshaus Tamedia gehört und mit der auch die Süddeutsche Zeitung kooperiert. Binswanger hat mehrmals über die Zuger Landammannfeier geschrieben, meist kritisch gegenüber Spiess-Hegglin.

Nun liegt das jüngste Urteil in der nun schon Jahre dauernden Auseinandersetzung vor. Wie das Obergericht Zug am Montag mitteilte, hat es ein Publikationsverbot gegenüber Binswanger aufgehoben. Das hatte die vorherige Instanz gegen ein Buchprojekt der Journalistin verhängt, mit Verweis auf die sehr wahrscheinliche Verletzung von Spiess-Hegglins Persönlichkeitsrechten. Das Obergericht hält nun fest, dass dafür nicht genügend Hinweise vorlägen.

Publikationsverbot? Was sind das für Waffen, mit denen hier gekämpft wird? Die kurze Antwort: Für einen Streit, bei dem es vorrangig um Worte geht, sind es ziemlich große Geschütze.

Ein Treffen mit Jolanda Spiess-Hegglin in Oberwil, einem Vorort von Zug. Die 40-Jährige wohnt hier mit Mann und drei Kindern. In ihrem Büro serviert sie Espresso und sagt: "Es geht bei diesem Thema um mein innerstes Trauma." Sie meint den Abend der Landammannfeier. Anfang 2020 hat sie erfahren, dass Michèle Binswanger ein Buch darüber schreiben und dabei die Perspektive von Markus Hürlimann ins Zentrum stellen will.

Michèle Binswanger beteuert, dass sie diese Auseinandersetzung nicht gewollt habe

Ihre Persönlichkeitsrechte seien schon einmal krass verletzt worden, sagt Spiess-Hegglin, das hätten Gerichte bestätigt. "Michèle Binswanger und Tamedia müssen begreifen, dass man meine Intimsphäre nicht einfach herumreichen darf." Spiess-Hegglin konnte das Buchprojekt im Mai 2020 vorsorglich per Gerichtsbeschluss stoppen, im September hat das Kantonsgericht den Entscheid bestätigt. Nun hat das Obergericht anders entschieden.

Telefonat mit Michèle Binswanger. Die drahtige Frau ist ein Aushängeschild des Tages-Anzeigers. Für ihren Mamablog wurde sie 2010 zur Schweizer Journalistin des Jahres gekürt, es folgten mehrere Auszeichnungen als Gesellschaftsjournalistin. Die Jury lobte unter anderem ihren "selbstbewussten Feminismus ohne politische Korrektheit".

Sie sei froh über das Urteil, sagt die 49-Jährige. Jetzt werde sie zusammen mit ihren Vorgesetzten schauen, was aus ihrem Buch wird. "Das Manuskript existiert, aber fertig ist es noch nicht." Binswanger hält es nach wie vor für wichtig, die Folgen dieser Nacht noch mal aufzurollen. "Frau Spiess-Hegglin hat ihre Sicht auf den Fall offensiv in den Medien diskutiert und immer wieder öffentlich über Privates gesprochen. Ich finde es wichtig, endlich einmal mit dem zweiten Opfer zu reden: Markus Hürlimann." Sie beschäftige sich als Journalistin mit dem Fall, beteuert Binswanger, diese Auseinandersetzung habe sie nicht gesucht.

Was gerade zwischen den beiden Frauen passiert, ist, man muss es einmal so sagen, eine Art feministisches Desaster. Da bekämpfen sich eine preisgekrönte Journalistin, die als wichtige weibliche Stimme der Schweiz gilt, und eine Aktivistin, die sich gegen schmutzige und oft auch sexistische Berichterstattung zur Wehr setzt.

Im Juli verurteilte die Staatsanwaltschaft Basel die Journalistin wegen Verleumdung zu einer Bewährungsgeldstrafe

Inzwischen laufen zwischen ihnen gleich mehrere Gerichtsverfahren. Erstens das zum Publikationsverbot, das Spiess-Hegglin wahrscheinlich vor dem Bundesgericht anfechten wird. Das zweite bezieht sich auf einen Tweet von Binswanger: Weil sie Spiess-Hegglin darin vorgeworfen hatte, Hürlimann weiterhin der Vergewaltigung zu bezichtigen, hatte Spiess-Hegglin Binswanger angezeigt. Im Juli verurteilte die Staatsanwaltschaft Basel die Journalistin wegen Verleumdung zu einer Bewährungsgeldstrafe und einer Geldbuße. Binswanger und ihr Medienhaus fechten den Entscheid an. Indes gehen die Scharmützel weiter, die sich die Frauen und ihre jeweiligen Unterstützer in den sozialen Medien liefern. Immer wieder nehmen sie aufeinander Bezug, jede Like, jeder Retweet wird von der Gegenseite registriert.

Wie konnte es so weit kommen?

Michèle Binswanger, geboren 1972, wurde 2010 in der Schweiz zur Journalistin des Jahres gewählt. 2017 veröffentlichte sie das Buch "Fremdgehen - Ein Handbuch für Frauen". (Foto: Fabienne Andreoli)

Fragt man Jolanda Spiess-Hegglin, holt sie weit aus. Erzählt von den ersten Artikeln Binswangers über sie, über Sätze, die sie tief verletzt haben. Es geht um die Wochen und Monate nach der Landammannfeier, als viele ihr vorwarfen, sie wolle mit dem Filmriss nur einen Seitensprung vertuschen. Binswanger schrieb damals in einem Kommentar über Spiess-Hegglin, ihr Verhalten sei "nicht zum Nutzen der Frauen". Trotzdem trafen sich beide kurz darauf bei Spiess-Hegglin zu Hause. Sie habe es als ein Hintergrundgespräch betrachtet, erzählt Spiess-Hegglin, und ihr in aller Offenheit ihre Version der Ereignisse dargelegt, Akten und Dokumente gezeigt. Binswanger machte daraus im Frühling 2015 ein Porträt - und Spiess-Hegglin fühlte sich aufs Neue verraten. "Ich will mit solchen Menschen nichts zu tun haben", sagt sie.

Michèle Binswanger hält ein Verbot für einen schweren Angriff auf die Presse- und Meinungsfreiheit

Hinzu kommt, dass Binswanger mit Tamedia ein mächtiges Medienhaus im Rücken hat. Das unterstützt sie nicht nur finanziell bei den Rechtsstreits, sondern nutzt auch seine enorme Reichweite und greift Spiess-Hegglin öffentlich in Kommentaren an. "Einen solchen Apparat habe ich nicht zur Verfügung", sagt Spiess-Hegglin. Sie will sich weiter wehren, so wie sie es auch schon 2019 mit dem mächtigen Ringier-Verlag gemacht hat. Der hat sich inzwischen bei ihr für seine Berichte entschuldigt. "Ich bin die erste, die möchte, dass der Abend aufgeklärt wird", sagt Spiess-Hegglin über das Buch. "Aber nicht von jemandem wie Michèle Binswanger, die einfach nicht neutral ist."

Fragt man Michèle Binswanger, sagt sie: "Ich mache einfach meine Arbeit." Das Porträt von 2015 sei sehr wohl mit Spiess-Hegglin abgesprochen gewesen. Ihr Buch zu verbieten, ohne zu wissen, was drin steht, betrachtet sie als schweren Angriff auf die Presse- und Meinungsfreiheit, den das Obergericht nun glücklicherweise korrigiert habe. Und dann erzählt auch sie von heftigen Angriffen im Netz, von Hassbotschaften aus dem Spiess-Hegglin-Lager. "Da bleibt schon was hängen."

Liegt, wie so oft, die Wahrheit irgendwo dazwischen? Spiess-Hegglins Ton im Netz ist für eine selbsternannte Kämpferin gegen den Hass oft problematisch, und auch Binswanger fällt auf Twitter nicht immer mit Zurückhaltung auf. Fest steht, dass der Streit vor Gericht weitergeht. Und zumindest in einem sind sich die Frauen einig: dass sie am Ende Recht bekommen werden.

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