Süddeutsche Zeitung

"Männerwelten" auf Pro Sieben:Muss man gesehen haben

Mit ihrem Video gegen sexuelle Gewalt ernten Joko und Klaas große Zustimmung in Politik und Gesellschaft. Manche nennen die Betroffenheit aber auch "etwas heuchlerisch".

Von Anika Blatz und Aurelie von Blazekovic

Eine Primetime-Sendung auf Prosieben, die sogar von der Bundesregierung gelobt wird, das dürfte ein Novum sein. Franziska Giffey ließ ausrichten, das Bundesfrauenministerium begrüße jedes Engagement, "das unsere Bemühungen um mehr öffentliche Aufmerksamkeit für diese Problematik unterstützt". Die Wucht, mit der "Männerwelten" in den sozialen Medien eingeschlagen hat, ist durchaus beeindruckend. Auf Instagram wurde das Video rund 18 Millionen Mal, auf Youtube drei Millionen Mal gesehen, auf Twitter der Hashtag "Männerwelten" zigtausendfach Mal benutzt. Prosieben sendete es am späten Donnerstagabend noch einmal, "weil es so wichtig ist".

Der 15-minütige Beitrag war zuerst am Mittwochabend ausgestrahlt worden, vor zwei Millionen Zuschauern. Das Moderatorenduo Joko und Klaas hatte die Zeit zur freien Verfügung und übergab an Autorin Sophie Passmann, die durch eine finstere Ausstellung führte, die Gewalt an Frauen sichtbar macht. Frauen aus der Öffentlichkeit und unbekannte Frauen schildern Übergriffe. "Sexuelle Belästigung ist etwas, das jede zweite Frau in Deutschland erlebt hat", sagt Sophie Passmann. Der Beitrag breitet die Belästigungen schonungslos aus und beklemmt mit dem Grad an Alltäglichkeit, mit der Normalität, in der sie im Internet wie im echten Leben geschehen, mit ihrer Härte und dem "Ach, stell dich doch nicht so an"-Ton, der aus den Schilderungen hervorgeht. Der Tenor in den sozialen Medien: "Männerwelten" muss man gesehen haben. Moderatorin Anne Will teilte das Video in einem Tweet mit dem Zusatz "Pflichtprogramm". Außenminister Heiko Maas bedankte sich bei allen Frauen, die "von ihren grausamen Erfahrungen berichtet haben". Der SPD-Europaabgeordnete Tiemo Wölken bezeichnete die Viertelstunde als "die wahrscheinlich wichtigsten 15 Minuten Fernsehen des Jahres". Die Frauen hätten "uns Männern den abscheulichen #Männerwelten-Spiegel vorgehalten".

Gleichzeitig regte sich auch Kritik. Die Zusammenarbeit mit der Frauenrechtsorganisation "Terre des Femmes" halten viele, unter ihnen Asha Hedayati, Rechtsanwältin für Familienrecht in Berlin, für problematisch. Sie hätten "zum Teil unvertretbare Positionen beim Thema islamische Frauen und Sexarbeiterinnen. Es gibt so viele tolle Vereine, bei denen die Aufmerksamkeit besser investiert gewesen wäre", sagte sie der SZ. Hedayati hat täglich mit Frauen zu tun, die sexualisierte, körperliche und psychische Gewalt erfahren haben. Sie betreut Frauen, die sich aus gewalttätigen Ehen und Partnerschaften befreien wollen. Die Folgen eines solchen Primetime-Beitrags für Betroffene sind aus ihrer Sicht schwer einzuschätzen. Sie hätte sich zumindest einen richtigen Hinweis gewünscht, dass es um sexuelle Gewalt geht. Die "gute und starke Aktion" sei Anstoß für eine wichtige Debatte, die in den letzten Jahrzehnten immer wieder geführt wurde, "jedoch ohne nennenswerte Konsequenzen." Dennoch fehlten Hedayati einige Perspektiven in der Sendung, allein dadurch "dass nur weiße Frauen vorkamen. Tatsächlich ist es aber so, dass auch Women of Colour, Transsexuelle und - was mir ganz wichtig ist - behinderte Frauen von dieser Gewalt betroffen sind." Diese treffe es zwei- bis dreimal so häufig, weil sie sich oft weniger gut schützen können. Klar sei aber auch: in 15 Minuten kann man nicht alles abbilden. Die große Betroffenheit unter Politikern auf Twitter nennt Hedayati "etwas heuchlerisch". Denn gleichzeitig habe Deutschland seit 2017 die Istanbul-Konvention ratifiziert, ein Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen - ohne große Veränderungen. "Es reicht eben nicht, betroffen zu sein und dann alles weiterlaufen zu lassen wie immer."

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SZ vom 16.05.2020/cag
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