Wer in Deutschland den Fernseher anschaltet, kann sich oft genug wundern, seit Jahren, und gerade ganz besonders. In den zähen Monaten der pandemischen Verunsicherung wechselte RTL den Ex-Titan Gottschalk gegen den Ex-Titan Bohlen ein, die ARD sendete in hoher Frequenz Extra-Sendungen nach der Tagesschau, in denen Menschen auf der Straße oder am Flughafen Mikrofone vor den Mundschutz gehalten werden. "Gut, ich sach ma, et is einem schon mulmig, aber wir ham uns den Urlaub ja auch verdient." Das also ist das Elend, in dem man zu der Erkenntnis kommen kann: Gut, dass es Pro Sieben gibt. Was sich in der Nacht zum Donnerstag auf dem Privatsender abspielte, kann man als Wunder bezeichnen.
Die beiden verlässlichen Unterhaltungskünstler Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf hatten in ihrer Sendung Joko & Klaas gegen ProSieben wieder mal eine Viertelstunde Sendezeit zur freien Verfügung, zuletzt widmeten sie die dem Thema Gewalt gegen Frauen oder den Geflüchteten in einem abgebrannten griechischen Lager. Diesmal zeigten die beiden eine Reportage aus der Uniklinik Münster, allerdings nicht 15 Minuten, sondern mehr als sieben Stunden lang.
Da ist ein besonderes, strahlendes Stück Fernsehen geglückt
Dort arbeitet Krankenpflegerin Meike Ista, die sich für den Film in der Frühschicht eine Kamera umgehängt hat. Das Fernsehpublikum steigt also mit ihr in der Dunkelheit aus dem winzigen Auto und begleitet sie mitten hinein ins Knochenmark- und Transplantationszentrum. Kaffeekochen, Handschuhe an, Fiebermessen, Handschuhe aus, Medikamente verteilen, Handschuhe an, Blutabnehmen, Handschuhe aus, Desinfizieren, Beraten, Saubermachen. Handschuhe an. Handschuhe aus. Echtzeit. Nähe. Unmittelbarkeit. Eine komplette Schicht. Der Abend verfliegt, die Nacht bricht an, Pro Sieben hat mehr als sieben Stunden Sendezeit freigeräumt, Pausen gibt es nicht, Werbung wird nur klein eingeblendet, Meike Istas Schicht pausiert ja auch nicht.
Immer wieder mal teilt sich der Bildschirm. Während in Münster Meike Ista durch die Flure hetzt, wird das Personal verschiedener Kliniken und Heime eingeblendet. Altenpfleger, Frühchenschwestern, Intensivpfleger. Einer erzählt, er sei lange Soldat gewesen und ginge lieber wieder nach Afghanistan, als noch einmal so eine Zeit zu erleben wie während der zweiten Corona-Welle. Sie sprechen von Kollegen, die 23 Tage am Stück arbeiten, von Kolleginnen, die aussteigen, kurz vorm Zusammenbruch oder auch erst danach.
Sie sagen, dass sie mehr Geld brauchen, mehr Personal, ein System, das es Krankenhäusern gar nicht erst möglich macht, private Gewinne zu erzielen. Sie erzählen davon, wie sehr sie ihren Beruf lieben, nicht aber die Bedingungen. Sie und ihre Arbeit werden als selbstverständlich gesehen in diesem reichen, dicken Land, sagen sie, als zu selbstverständlich. Im Lauf der Reportage wird der Hashtag #nichtselbstverständlich eingeblendet, die Twitter-Beiträge unter dem Schlagwort scheinen in der Sendung auf.
Reportagen haben es gerade besonders schwer im Fernsehen
Um zu verstehen, was für ein besonderes, strahlendes Stück Fernsehen den Macherinnen und Machern sowie dem Sender da geglückt ist, muss man nochmal ein paar Dinge über den Stand des deutschen Fernsehens im Jahr 2021 festhalten.
Reportagen haben es hier schwer, nicht erst, seit sich herausgestellt hat, dass der preisgekrönte NDR-Dokumentarfilm Lovemobil über zwei Prostituierte mit Schauspielerei entstanden ist, was die Filmemacherin nicht gekennzeichnet hat. Sowas gab es immer wieder mal, und obwohl man sich einig ist, dass der heimliche Einsatz von Schauspielern ein Verstoß ist, wurde auch diesmal die Frage neu verhandelt, wie viel Inszenierung in Dokus erlaubt ist. Weil sie ja die Wirklichkeit abbilden sollen, allerdings immer in geraffter, geschnittener, von Musik oder Kommentar modulierter Form.
In diese Debatte hinein kracht Pro Sieben mit "Nicht selbstverständlich", in der Haupthandlung auf ein Minimum reduziert. Auf eine Protagonistin, ihre Bodycam, Echtzeit. Damit straft der Film alle Lügen, die meinen, eine aufsehenerregende Dokumentation müsse heutzutage durchinszeniert sein, das Publikum - von dem gerade bei ARD und ZDF in peinlicher Angst stets die Rede ist und das dabei seit Jahrzehnten für dümmer gehalten wird, als es ist - wolle doch nichts mehr anderes.
Eigentlich presst man im deutschen Fernsehen alles gern in Formate
Auch die Entscheidung, in einem Knochenmark- und Transplantationszentrum zu drehen, nach einem Jahr Pandemie, ist bemerkenswert. Einerseits schlau, weil der Pflegenotstand ja nicht mit der Seuche einsetzte, sondern die Situation dadurch nur unters Brennglas geraten ist. Andererseits erfrischend. Fühlt man sich bei deutschen Sendern nicht geradezu verpflichtet zu Stücken mit Beatmungsgerät, dramatischer Musik, weinenden Angehörigen und einer Statistiken referierenden Stimme aus dem Off?
Das Mutigste aber an "Nicht selbstverständlich" ist der Umgang mit der Zeit. Je länger Reportagen sind, desto schwerer haben sie es im Programm. Auch, weil im deutschen Fernsehen alles rasend gern in feste Formate gepresst wird: Gleicher Aufbau, gleiche Länge. Opener, Sprecher aus dem Off, Musikeinsatz und so weiter. Klar gibt es auch waghalsige, wilde Sendungen. (Die Doku Das Purpurmeer etwa. Sie zeigt die Aufnahmen der Handykamera, die sich die syrische Filmemacherin Amel Alzakout für ihre Flucht in einem Schlauchboot am Handgelenk befestigt hatte. Das Boot sank kurz vor Lesbos, der Großteil der Bilder entstand unter Wasser, man ringt beim Zusehen nach Luft). Aber sowas versteckt man spät nachts. Pro Sieben hat mit "Nicht selbstverständlich" so viele Formatregeln gebrochen, zur Hauptsendezeit, dass selbst konkurrierende Sender öffentlich applaudierten.
Im Schnitt haben 730 000 Menschen die Reportage verfolgt, teilte der Sender mit, 5,84 Millionen Menschen sollen mindestens mal kurz reingeschaut haben. Beim jüngeren Publikum im Alter von 14 bis 39 war am Mittwochabend keine andere Sendung erfolgreicher. Das legt den nächsten großen Irrtum offen: Wer junge Menschen erreichen will, braucht eben keine unterkomplexen Reportagen, in denen junge Reporterinnen und Reporter Bambifragen stellen, Wummermusik und bunte Grafiken auf den Bildschirm knallen.
Auch junge Menschen verstehen Bilder und Menschen, die für sich selbst sprechen. Sie schalten Pro Sieben ein, wenn guter Stoff zu einer guten Uhrzeit zu sehen ist und das Marketing stimmt. In diesem Fall bestehend aus Winterscheidt und Heufer-Umlauf mit zusammen 3,8 Millionen Followern allein auf Twitter und klug integrierten Live-Netzbeiträgen. Womöglich ist auf die Weise sogar ein wenig vom alten Lagerfeuergefühl zurückgekehrt, das manche so vermissen. Denn die Menschen schalten in offenbar großer Zahl nicht wieder ab oder um.
Schau an. Es ist nicht tot, das deutsche Fernsehen. Auch das übrigens: Nicht selbstverständlich.