Jörg Kachelmann und die Medien:Ein öffentliches Geschäft

Der Fall Kachelmann ist ein mediales Rennen um Vorfreisprüche und Vorverurteilung. Was richtet Journalismus an, was richtet er aus?

Hans Leyendecker

Man konnte in den vergangenen Monaten fast alles über die Sexualpraktiken des Wetteransagers Jörg Kachelmann erfahren und jetzt auch lesen und hören, wie das so im Gefängnis ist. Einen knappen Tag nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft brachten Sender ein Video, in dem der wegen Verdachts der besonders schweren Vergewaltigung und wegen Körperverletzung angeklagte Kachelmann seine Hafterfahrungen schilderte: "Furchtbar." Zusätzlich gab er dem Spiegel ein Interview über seine Zeit im Knast. Er sprach über Frauen, über seine Fehler, über sein Gewissen und zeigte den Journalisten seinen Gefängnisausweis, der ihn als Hausreiniger 1/3 in der Justizvollzugsanstalt Mannheim auswies. "Schänzer" nennt man im Gefängnis so einen, der die Post austrägt und die Klos putzt.

Kachelmann hat Gefängnis verlassen

Im Zentrum der Berichterstattung: Jörg Kachelmann, hier bei seiner Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt in Mannheim.

(Foto: dpa)

Eigentlich ist "Schänzer" kein schlechter Begriff für das, was sich im Fall Kachelmann in den Medien abspielte und was sich abspielt. Es wurde abgeliefert, was das Publikum angeblich sehen, hören und lesen wollte. Bei der Verrichtung wurden die öffentlichen Klos mal beschmutzt und mal wurde versucht, sie zu putzen. Der Boulevard reagierte routiniert aufgeregt. Seriöse Blätter wie der Spiegel, die Zeit und auch die Süddeutsche Zeitung berichteten ausführlich über die Gutachterschlacht "im spektakulärsten Kriminalfall des Jahres", wie vorige Woche der Stern verkündete. Ein Teil der veröffentlichten Meinung schlug sich auf die Seite von Kachelmann, andere trauten eher dem Opfer. Einige versuchten, neutral zu bleiben. Angesichts der Fülle der Berichte war in Medien die Rede von einem "Mediengericht".

Der "Prozess wurde schon vorab geführt", meinte Mitte voriger Woche, pünktlich zur Entscheidung des Karlsruher Oberlandesgerichts im Fall Kachelmann, die Frankfurter Rundschau. Stimmt das wirklich? Ein Teil der Öffentlichkeit beschwerte sich über das Rattenrennen im Fall Kachelmann; einige der Mahner hatten vorher die Tagesschau kritisiert, weil die sich angeblich aus Gründen der Kumpanei lange Zeit nicht mit dem Fall des Meteorologen beschäftigt hatte. Wer als Journalist über den Fall Kachelmann schreibt, äußert sich also über seinen eigenen Beruf, über den Alltag, über die Umstände seiner Arbeit und das auch deshalb, weil das angebliche Opfer Moderatorin beim Privatradio ist und weil der angebliche Täter oft im Fernsehen zu sehen war. Kachelmann bezeichnet sich selbst im Interview als einen "viertklassigen TV-Prominenten" - ein Widerspruch in sich.

Wenn junge Leute nach ihren Berufswünschen gefragt werden, sagen sie nicht selten, sie wollten "irgendwas mit Medien" machen. Irgendwie gehören also auch der Wettermann und die Radiofrau dazu. Ursprünglich wollte die Radiofrau Toningenieurin werden, dann hat sie Medientechnik studiert. Fernsehen fand sie nervig. Das sei "wahnsinnig aufwendig", sagte sie mal: tausend Leute für ein Fitzelchen Beitrag und dann noch die Schminkerei - "nervig". Sie absolvierte ein Volontariat bei einem Privatradio, war Redakteurin und Moderatorin und machte dann nach einer betriebsbedingten Kündigung als "Freie" weiter. Drei Wochen im Monat zunächst. Weil sie immer Zeit für Kachelmann haben wollte, sagt sie, habe sie ihre Berufstätigkeit reduziert. Seit 2007 hat sie nur noch eine Woche im Monat gearbeitet. Verdient hat sie 600 bis 1000 Euro. Sie sei dennoch über die Runden gekommen.

Bevor sie Anzeige erstattete, sagte sie in einer Vernehmung, sei ihr schon klar gewesen, dass die Medien rausbekommen wollten, wer das "angebliche Opfer" sei, wo die Frau herkomme, wer die Frau sei. Dann werde die "Hölle losbrechen" habe sie geahnt. Aber was dann passiert sei, sei noch schlimmer gewesen. Stückchen für Stückchen sei alles veröffentlicht worden, jedes "schmutzige" Detail. Während Kachelmann im Gefängnis alle Sendungen mied, die mit seinem Fall zu tun haben könnten, verfolgte sie alles, und das war nicht gut für ihre Seele. Ein Traumatologe schrieb in einem Gutachten, der Umgang in der Presse und im Internet habe sich "fatal" auf ihre Gesundheit ausgewirkt. Sie habe mit therapeutischer Unterstützung noch ein paar Sendungen machen können, aber als dann an einem Wochenende im Juni vorab gemeldet worden sei, ein Gutachten stelle ihre Glaubwürdigkeit in Frage, habe sie Selbstmordgedanken gehabt. An Arbeit war nicht mehr zu denken.

Wer reichte die Akten weiter?

Was richtet Journalismus an, was richtet er aus? Und was wissen Medien über die eigene Arbeit? "Noch nie wurden in einem Promi-Prozess so viele Einzelheiten aus den Akten weitergespielt wie im Fall Kachelmann", schrieb vorige Woche eine große Zeitung. Noch nie? Viel mehr Rummel gab es beispielsweise Anfang der achtziger Jahre, als Medien über Marianne Bachmeier berichteten, die im Gerichtssaal den Menschen tötete, der ihr Kind getötet hatte. Ein Magazin veröffentlichte damals die Serie "Annas Mutter", die zu Beginn des Prozesses abgebrochen wurde, "um Marianne Bachmeiers Aussagen nicht vorzugreifen", wie das Blatt schrieb. Dann erschien mitten in den Prozess hinein das Buch "Annas Mutter".

Ein vergleichbarer Fall blieb damals übrigens ein lokales Ereignis. Ein älterer Herr hatte den Schwiegersohn am Grab der Tochter erschossen, die angeblich vom Ehemann in den Tod getrieben worden war. Älterer Herr, gutaussehende Mutter - da ist klar, wer das bessere Geschäft verspricht.

In diesen Tagen spekulieren Medien darüber, wie die Akten im Fall Kachelmann in die Medien gelangt sind. Die Radiomoderatorin, die von solchen Dingen nichts versteht, hat in einem Gespräch mit einer Gutachterin gemutmaßt, die Akten müssten von der Polizei oder der Staatsanwaltschaft weitergereicht worden sein: Wer soll es sonst sein, hat sie gefragt? Sie fühle sich hintergangen.

Dass die Staatsanwaltschaft mittels Akten Druck gemacht hätte, meinen in diesen Tagen auch einige Kommentatoren. Es gibt viele Wege, wie Akten nach draußen gelangen können, ganz selten hat die Staatsanwaltschaft damit was zu tun. Es gibt schlechte, aber auch gute Gründe, in einem Verfahren solche Details zu veröffentlichen. Daran hat in der Regel am allerwenigsten die Staatsanwaltschaft ein Interesse.

Seit geraumer Zeit gibt es in der Rechtswirklichkeit erhebliche Veränderungen, die für einen ordentlichen Strafprozess, der einzig über die Schuld- und die Straffrage entscheidet, hinderlich sein können. Dazu gehören der Deal, in dem sich die Beteiligten vor Prozessbeginn informell verständigen. Die echten Entscheidungsprozesse werden der Öffentlichkeit meist vorenthalten. Dazu zählen aber auch, wie im Fall Kachelmann, die Vorberichte über die im September beginnende Hauptverhandlung, die Vorverurteilungen und Vorfreisprüche sein können. In der angloamerikanischen Rechtskultur würden sie als contempt of court (Missachtung des Gerichts) mit Sanktionen belegt. Aber auch solche Berichte können aufklärerisch sein. Ein altes Thema: Über das Thema "Strafprozessführung über Medien" hat in den achtziger Jahren der Journalist Joachim Wagner ein lesenswertes Buch geschrieben. Im Mai dieses Jahres beschäftigte sich der Deutsche Anwaltstag in Aachen mit der "Kommunikation im Kampf ums Recht". Es gibt mittlerweile Berater, die Journalisten mit Informationen versorgen, um für Mandanten das beste Ergebnis herauszuholen, und dabei werden auch gezielt entlastende oder scheinbar entlastende Informationen gestreut. Auch spielt manche Staatsanwaltschaft offensiver als früher und lädt Journalisten zu Hintergrundgesprächen ein.

Am aggressivsten agierte im Fall Kachelmann die Zeit-Journalistin Sabine Rückert, die ein Dossier über den Fall veröffentlichte. Rückert ist allerdings eine der sachkundigsten Reporterinnen. Nach der Veröffentlichung wurde eine E-Mail bekannt, die Rückert im Mai dem Kachelmann-Verteidiger geschickt hatte: "Wir können nur zusammenkommen, wenn Ihre Verteidigung in einem angedeuteten Sinne professionalisiert wird, dazu sollten Sie sich überlegen, einen Kollegen einzubinden, der Verfahren dieser Art auch gewachsen ist", schrieb die Journalistin, die dem Anwalt vorwarf, "auf leisen Sohlen" zu verteidigen.

Ein ungewöhnlicher Vorgang. Rückert sagt, Kachelmanns Verteidiger habe ihr Akten offeriert, was sie angesichts der Umstände abgelehnt habe. Der Anwalt bestreitet ein solches Angebot. Er erklärt jetzt generell, die Verletzung der Persönlichkeitsrechte seines Mandanten in den Medien seien so gravierend, dass seine Seite ein Schmerzensgeld in Höhe von 2,25 Millionen Euro verlange. Die Veröffentlichung von Bildern vom Hofgang Kachelmanns beispielsweise seien eine Persönlichkeitsverletzung. Aber auch dieser Anwalt versteht sich auf den Umgang mit Medienvertretern. Die Reporterin Rückert brachte ihre Geschichte vor der Hauptverhandlung, weil sie den Fall Kachelmann für einen Justizirrtum hält. Sie hat vor Jahren einen solchen Irrtum aufgeklärt und ist Autorin eines Buches zu dem Thema. Sie kann offenbar auswählen, mit wem sie "sinnvollen Informationsaustausch" betreibt und mit wem nicht. Ihr Urteil hat auch in der Justiz Gewicht. Und dennoch wird am Ende nur eine Strafkammer darüber entscheiden, ob Kachelmann schuldig ist oder nicht.

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