Jean-Paul Gaultier für Zeitung "Libération":Das letzte Hemd

Jean-Paul Gaultier gestaltet eine Ausgabe der französischen Tageszeitung "Libération" und zeigt Journalisten und Verlagsangestellte in frivol-fetzigen Klamotten. Das ehemals maoistische Blatt versucht mit derartigen Aktionen, in wirtschaftlich schweren Zeiten Leser zu locken.

Stefan Ulrich

Man mag es sich kaum vorstellen: Redakteure, Ressortleiterinnen, Reporter, die Damen vom Marketing und die Herrn von der Chefredaktion, also all jene Menschen, die sich normalerweise hinter der Zeitung verstecken, stolzieren als Mannequins halbnackt durchs Blatt, angetan mit frivol-fetzigen Klamotten. Der Kollege aus der Kulturredaktion trägt eine Weste aus Papierschnipsel zur Grauhaarbrust. Die für Porträts verantwortliche Kollegin strickt, nur mit halterlosen schwarzen Nylonstrümpfen bekleidet, an einem Kleidchen aus Zeitungsstreifen. Andere posieren in konischen Bustiers aus Pappmaché oder in einer knapp sitzenden Papier-Unterhose. Ein Traum? Und was für einer?

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Redakteure, Ressortleiterinnen, Reporter, Verlagsangestellte sind die Mannequins in der französischen Tageszeitung Libération. Der Grund: Modeschöpfer Jean-Paul Gaultier gestaltete eine Ausgabe des ehemals stramm linken Blatts.

Not macht erfinderisch. Die französische Tageszeitung Libération versucht seit langem, mit überraschenden Titelseiten und gewagtem Layout Leser anzulocken. Auch lässt das 1973 von Jean-Paul Sartre mitgegründete Blatt gern Prominente eine Ausgabe gestalten. Vor drei Jahren durfte die Präsidentengattin Carla Bruni Chefredakteurin spielen, was die linke Leserschaft eher verwirrte als betörte.

Jetzt kam der Modeschöpfer Jean-Paul Gaultier an die Reihe. Er kreierte eine Kollektion aus Zeitungspapier für mehrere Dutzend Mitarbeiter der Libération. Halb verpackt, halb entblößt schmücken die Kollegen sämtliche Seiten dieser Dienstagsausgabe. Oh, là là!

"Schön und sexy" wolle er die Zeitungsleute sehen, hatte Gaultier angekündigt, und einen Konferenzraum als Umkleide beschlagnahmt. Dort überwachte er, wie Journalisten, Redaktionsassistenten oder Verlagskaufleute frisiert, geschminkt und in Zeitungen gehüllt wurden. Der Meister selbst posiert auf dem Titelblatt, in einer schulterfreien, bodenlangen Robe aus alten Libération-Ausgaben.

Der Anlass der Aktion: Das Museum der Schönen Künste in Montreal zeigt seit Dienstag eine große Retroperspektive von Gaultier-Kreationen. Daher wollte die Zeitung den provokanten Modemacher zu Wort kommen lassen, der schon Madonna und Lady Gaga ausstaffierte. Gaultier spricht - durch seine Journalisten-Models und in einem Interview. Darin bekennt er, er sei als Junge schüchtern gewesen und lese am liebsten Libération.

Das Medium und der Modemann passen wirklich gut zusammen. Beide haben vor Jahrzehnten als enfants terribles ihrer Branche angefangen. Beide pflegen diesen Ruf weiter, auch wenn sie heute zum Establishment gehören. So hat die Libération längst ihrer maoistischen Vergangenheit abgeschworen. Sie spricht nun ein sozialdemokratisiertes Publikum an. Zugleich leidet sie, wie die anderen französischen Tageszeitungen, stark unter der weltweiten Zeitungskrise. Die verkaufte Auflage pendelt um die 115 000 Exemplare pro Tag. Da kommt selbstironisch inszenierter Gaultier-Glamour als Werbeträger gelegen.

Die Libération beweist jedenfalls: Journalisten sind vielseitiger einsetzbar, als Verleger bislang ahnten; und Papier ist immer noch geduldig. Das darf alle Print-Kollegen trösten. Den Online-Medien mag die Zukunft gehören. Doch sie sind nicht so kleidsam.

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