Westjordanland:Wer tötete die Journalistin Abu Akleh?

Lesezeit: 4 Min.

Schirin Abu Akleh bei der Arbeit in Jerusalem. (Foto: AP)

Schirin Abu Akleh galt als Ikone in der arabischen Welt. Im Mai wurde sie durch eine Kugel getötet. Nicht Ermittler, sondern Journalisten haben die Todesumstände untersucht.

Von Moritz Baumstieger

Als die TV-Journalistin Schirin Abu Akleh am 11. Mai bei ihrer Arbeit in der Stadt Dschenin im Westjordanland von einer Kugel getroffen wurde, in sich zusammensackte und noch vor Ort ihren Verletzungen erlag, waren die Schuldzuweisungen schnell erhoben. Militante Palästinenser hätten gefeuert, teilte ein Sprecher des israelischen Militärs mit, das im seit Wochen unruhigen Flüchtlingslager der Stadt eine Operation durchgeführt hatte. Ein Video, aufgenommen nahe der Straße, in der Abu Akleh starb, schien diese Behauptung zu stützen - es zeigte einen bewaffneten Mann, der aufgeregt rief, man habe jemanden getroffen.

Auf der palästinensischen Seite und bei Abu Aklehs Arbeitgeber sprachen nicht wenige schnell von "kaltblütigem Mord" an einer Journalistin, die in der arabischen Welt als eine Ikone galt: In Jerusalem als Tochter einer christlichen Familie geboren, berichtete Abu Akleh seit 1997 für den katarischen Newssender Al Jazeera über den Nahostkonflikt - auch und gerade, wenn es gefährlich wurde. Das war bereits während der Zweiten Intifada so, das war auch an jenem 11. Mai wieder so, als Abu Akleh in Dschenin mit ihrem Team filmen wollte, als Teil einer Gruppe von Journalisten, mit Helm und Schutzweste, auf denen groß "PRESS" stand. Fast so schnell, wie die gegenseitigen Schuldzuweisungen erfolgten, wurde Abu Akleh in der arabischen Welt zu einem Symbol, zu einer Märtyrerin erhoben - ihr Konterfei zierte Wandgemälde, wurde am Strand von Gaza aus Sand nachgebildet, in Kirchen als Porträtbild aufgestellt.

Eine umfassende Untersuchung der Todesumstände kam jedoch nicht zustande. Die Palästinenser verweigerten eine Zusammenarbeit mit der israelischen Armee, obwohl diese bald von ihrer Version eines möglichen Tathergangs Abstand nahm. Ermittlungen wollte die zuständige Militärstaatsanwältin dann aber nicht einleiten, erklärte sie knapp eine Woche nach dem Tod Abu Aklehs: Zu gering seien ohne Obduktion und ohne eine Untersuchung der tödlichen Kugel die Aussichten auf Erfolg. Zu gering seien aus Sicht der Armee gleichzeitig die Anhaltspunkte, dass ein Verbrechen vorliege - "eine eindeutige Bestimmung der Quelle des Gewehrfeuers" sei nicht möglich.

Dennoch scheinen die Vorgänge am frühen Morgen des 11. Mai einen Monat später zumindest in Teilen aufgeklärt: Ob Abu Akleh "direkt und vorsätzlich" beschossen wurde, kann nicht sicher gesagt werden. Die palästinensische Staatsanwaltschaft behauptet das - spätestens seit dem Gazakrieg 2021, in dem Israels Luftwaffe einen Büroturm bombardierte, in dem Al Jazeera und etwa die Agentur Associated Press ihre Büros hatten, beschuldigt die palästinensische Seite Israel, Journalisten gezielt ins Feuer zu nehmen. Als gesichert kann jedoch mittlerweile gelten, dass die Kugel, die in den Kopf der 51-jährigen Journalistin eindrang, von einem israelischen Soldaten abgefeuert wurde - ob nun aus Versehen oder mit Vorsatz.

Die Aufgabe, die eigentlich Ermittlern und Juristen zukommt, übernahmen Journalisten. Zunächst präsentierte Abu Aklehs Arbeitgeber Al Jazeera ein Video, das belegte, dass von palästinensischen Militanten in den fraglichen Minuten nicht geschossen wurde. Dann analysierte die Gruppe Bellingcat den Vorgang - mit ihren Analysen von Geodaten, Video- und Audioaufnahmen haben die Digitalforensiker etwa schon beim Abschuss des Fluges MH-17 über der Ostukraine, im Syrienkrieg und nun aktuell bei der russischen Invasion der Ukraine oft entscheidende Hinweise zur Aufklärung von Situationen geliefert, in denen sich zwei Seiten gegenseitig beschuldigen. CNN und die Nachrichtenagentur AP nahmen sich des Falls an - und schließlich präsentierten in den vergangenen Tagen sowohl die Washington Post als auch die New York Times die Recherchen ihrer Investigativ-Teams. Neben der Auswertung von Daten haben die Journalisten auch Augenzeugen befragt, Anwohner, aber auch Kollegen, die sich aus Sicherheitsgründen gemeinsam mit Abu Akleh in einer Gruppe bewegten.

Al-Jazeera-Journalistin Shireen Abu Akleh wurde vor sechs Monaten im palästinensischen Westjordanland erschossen. (Foto: Mohammed Abed/AFP)

Die New York Times zeichnet den letzten Morgen im Leben von Abu Akleh minutiös nach, von dem Moment um 5.45 Uhr an, an dem sie in ihrem Hotel in Dschenin erwachte. Und wie die Kollegen anderer Medien kommen die Rechercheure zu dem Schluss, dass das Projektil, das Abu Akleh im Nacken traf, aus der Stirn wieder austrat und von der Innenseite des Helms umgelenkt wieder in den Kopf eindrang, 5,56 mal 45 Millimeter maß - ein Kaliber, das beide Seiten verwenden. Dennoch ist sich das Rechercheteam sicher, dass die tödliche Kugel "von der ungefähren Position des israelischen Armeekonvois" abgefeuert wurde, der zur fraglichen Zeit in Dschenin operierte. "Höchstwahrscheinlich von einem Soldaten einer Eliteeinheit" - palästinensische Bewaffnete seien im Gegensatz nicht in der Nähe gewesen.

Die Recherchen der Medien erhöhen nun den Druck auf Israel, den Fall doch noch zu untersuchen oder zumindest eigene Daten an unabhängige Ermittler zu übergeben - US-Abgeordnete fordern etwa eine Untersuchung durch das FBI, denn Abu Akleh war auch amerikanische Staatsbürgerin. Das ist jedoch wenig wahrscheinlich, schon weil das Land nach dem Bruch der bislang regierenden Koalition erneut vor einem politischen Vakuum steht. Wenig Hoffnung auf Transparenz macht zudem der Umgang mit einem Abschlussbericht einer anderen Untersuchung, die israelische Behörden in Bezug auf den Tod Abu Aklehs tatsächlich durchgeführt und Mitte Juni dem Minister für öffentliche Sicherheit übergeben haben.

Als Angehörige und Trauergäste den Leichnam vom Krankenhaus in Ostjerusalem, in dem die Journalistin obduziert worden war, zur Trauerfeier und zum Friedhof überführen wollten, kam es zu abstoßenden Szenen: Israelische Sicherheitskräfte wollten wohl einen schwer kontrollierbaren Menschenauflauf durch den Trauerzug verhindern und gingen mit Schlagstöcken und Blendgranaten vor, der Sarg mit dem Leichnam fiel den Trägern fast zu Boden. Laut der linksliberalen israelischen Zeitung Haaretz, die Details aus dem Bericht erfahren haben will, konstatiert Israels Polizei nun Fehlverhalten - veröffentlicht wird der Bericht aber genauso wenig, wie Konsequenzen gezogen werden sollen: Dass die verantwortlichen Offiziere keine disziplinarischen Maßnahmen zu erwarten haben, sei schon vor dem Abschluss des Berichts beschlossen worden.

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