Süddeutsche Zeitung

Journalismus in Israel:"Viele lesen Haaretz, weil sie keine Alternative haben"

Die Tageszeitung "Haaretz" wird 100 Jahre alt. Mit ihren Themen steht sie in Israel oft sehr alleine da - manchmal auch vor dem Obersten Gerichtshof.

Von Alexandra Föderl-Schmid

Aluf Benn holt Besucher selbst am Empfang ab und leitet sie durch den Bunker und ein verwirrendes System von Gängen, an deren Wänden Bilder aus der Kunstsammlung der Verlegerfamilie Schocken hängen. In einem anderen Gebäude taucht man im Newsroom wieder auf, dem pulsierenden Zentrum von Haaretz. Hier arbeiten rund 120 Mitarbeiter im Schichtdienst, quer über den Raum gespannte Regenbogenfahnen erinnern an die LGBT-Parade vom vergangenen Freitag in Tel Aviv, die 250 000 Teilnehmer anlockte. "Viele waren da, um für ein liberales und säkulares Leben in Israel zu demonstrieren", sagt Chefredakteur Benn in seinem bescheidenen Büro direkt neben dem Newsroom. Der 54-Jährige, im Amt seit 2011, hat wie auch andere Redaktionsmitglieder privat daran teilgenommen. Beruflich halten die rund 400 Mitarbeiter von Haaretz mit ihrem Journalismus die Fahne für ein liberales Israel hoch - seit hundert Jahren.

Am 18. Juni 1919 erschien die Zeitung erstmals in hebräischer Sprache. Ein Nachdruck davon ist der Printausgabe vom Dienstag zum Jubiläum beigelegt. 1937 kaufte Salman Schocken das aus einer britischen Militärzeitung hervorgegangene Blatt. Der angesehene Kaufhausbesitzer und Buchverleger war aus Nazi-Deutschland vertrieben worden. Sein Sohn Gustav führte von 1939 bis 1990 die Zeitung, sein Enkel Amos Schocken, der aktuelle Verleger, mischt sich seltener in das publizistische Geschehen ein, das Blatt gilt als liberales Bollwerk in einem Land, das politisch und gesellschaftlich nach rechts gerückt ist.

"Die natürliche Rolle der Medien ist die Opposition", sagt Benn und verweist darauf, dass Haaretz auch während der jahrzehntelangen Dominanz der sozialistischen Regierungen und Gewerkschaften liberale Standpunkte vertreten habe. "Wir waren schon zur Gründungszeit die Stimme der ökonomischen Freiheit." Das, sagt er, werde im Israel von heute als konservative Attitüde bezeichnet.

Benn versichert, dass die Zeitung wieder schwarze Zahlen schreibe

Wirtschaftlich kam die Zeitung in den Neunzigerjahren in arge Nöte. Im November 2006 kaufte das Kölner Verlagshaus M. DuMont Schauberg 25 Prozent des Aktienkapitals der Haaretz-Gruppe. Das Geld wurde vor allem in die Ausweitung lokaler Wochenblätter und zum Aufbau des Internetgeschäfts investiert. Der Anteil wurde fünf Jahre später um fünf Prozent reduziert, als der russisch-israelische Geschäftsmann Leonid Nevzlin 20 Prozent erwarb. Die Schocken-Familie hat mit 60 Prozent der Anteile weiter das Sagen bei dem Medienunternehmen, zu dem seit 1997 auch eine englischsprachige Ausgabe der Haaretz genauso gehört, wie die Wirtschaftszeitung TheMarker.

Wenn es um Zahlen geht, ist Benn verschwiegen. 110 000 Abonennten der hebräischen Ausgabe gebe es. In dieser Zahl sind Print- und Digitalabos enthalten, manche Leserinnen und Leser beziehen die Zeitung auch nur am Wochenende. Die englischsprachige Ausgabe, die der in Israel vertriebenen International New York Times beigelegt ist, zählt laut Benn mehrere tausend Abonnenten. Das Digitalangebot hätten mehrere zehntausend Leser abonniert. Konkreter will Benn nicht werden. "Wir sind ein Unternehmen in Privatbesitz", sagt er zur Begründung. Aber er versichert, dass Haaretz wieder schwarze Zahlen schreibe.

Dem Wendepunkt vor rund sechs Jahren ging ein schmerzhafter Restrukturierungsprozess voraus: Journalisten mussten entlassen werden, eine Digitalstrategie wurde entwickelt, die nicht von allen mitgetragen wurde und weitere "Trennungen" nach sich zog, die Produkte - darunter das Wochenendmagazin - wurden neu gestaltet. Als erste Zeitung in Israel verlangte Haaretz 2013 Geld für Onlineartikel. Außerdem wurden mehr Ressourcen in die Wochenendausgabe gesteckt, die laut Benn jeden Monat mehrere hundert neue Abonnenten verzeichnet. Das Publikum der hebräischen Haaretz-Ausgabe unterteilt der Chefredakteur grob in drei Gruppen: "Die Großeltern lesen die Tageszeitung, deren Kinder die Wochenendausgabe, und die Enkel lesen nur noch online." Diejenigen, die täglich die Zeitung lesen, seien immer noch seine Kernzielgruppe, wenn auch eine stetig schrumpfende.

Die hebräische und die englische Ausgabe bedienen laut Benn verschiedene Interessen, weil die Leser der hebräischen Ausgabe mehr am kulturellen Leben oder an Restaurantkritiken in Tel Aviv interessiert seien als jene, die die Berichterstattung aus dem Ausland verfolgen. Auf der englischsprachigen Homepage gibt es vor allem einen Anstieg an Nutzern, "wenn Krieg herrscht, gefolgt von Friedensverhandlungen und in jüngster Zeit der Frage, überlebt Netanjahu politisch oder nicht".

Dass Haaretz in Israel als politisch linkes Medium wahrgenommen wird, hat nach Ansicht des Chefredakteurs vor allem damit zu tun, "dass sich die Mainstream-Medien und der öffentliche Diskurs verändert" haben. Inzwischen greife fast nur Haaretz das Thema auf, dass Israel eine Besatzungsmacht im Westjordanland ist. "Dieses Thema spielt in der Öffentlichkeit einfach keine wichtige Rolle mehr. Wir sehen die Palästinenser als Opfer der Besatzung, nicht als blutrünstige Gegner."

Dafür gebe es mehr Debatten über den Stellenwert der Religion im öffentlichen Leben, auch unter Zionisten. Haaretz vertritt den Standpunkt, dass Staat und Religion stärker getrennt werden müssen, auch wenn gelegentlich ultraorthodoxe Autoren dagegenhalten. Profitieren kann die Zeitung von der nach eigener Definition rechtesten Regierung in Israel nicht. "Wir haben keine Trump-Blase", keine signifikanten Zuwächse. "Wir haben eine mehr bedrängte Gemeinschaft", sagt Benn. "Viele lesen Haaretz, weil sie keine Alternative haben." Vor dreißig, vierzig Jahren seien Zeitungen wie Yedioth Ahronot "weit linker" als Haaretz gewesen.

Benn, der seit mehr als 30 Jahren für die Haaretz arbeitet, lobt, dass sich US-Medien wie die New York Times wieder auf ihre kritische Rolle besinnen, die sie während der Obama-Ära vernachlässigt hätten. "Mit Trump wurden sie wieder zu Kämpfern. Sie haben nicht nur journalistisch, sondern auch ökonomisch wieder Erfolg."

Vor dem Obersten Gerichtshof in Israel hat Benn mehr Freiheit für die Berichterstattung erkämpft, er hat im Zuge der Berichterstattung über die Enthüllungen von Eduard Snowden in der angelsächsischen Presse sogar für ihn überraschend Positives an der fest verankerten Militärzensur in Israel entdeckt. "Als ich gesehen habe, wie sich die Washington Post, der Guardian und die New York Times selbst zensiert haben, um nicht rechtlich belangt zu werden, war ich erstaunt." Dann sagt er, und es ist sein voller Ernst: "In Israel muss ich keine Anklagen fürchten, wenn ich mich an die Zensurregeln halte. Das ist eine Art von Sonderschutz."

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SZ vom 18.06.2019/tmh
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