Maud, Lou und Barry. Manchmal sind die wahren Helden die Nebenfiguren; in der neuen Netflix-Serie "Inventing Anna" sind sie es mit Sicherheit. Denn ausnahmelos alle Hauptfiguren sind selbstsüchtige Unsympathen, was im Wesen der Sache liegt: "Inventing Anna" beruht auf der wahren Geschichte der Hochstaplerin Anna Sorokin, einer Deutschen, die sich als Millionenerbin ausgab und die New Yorker High Society ausnahm. Sie fälschte und log sich in fancy Gesellschaftskreise, dinierte in teuren Restaurants und "borgte" sich einen Privatjet für einen Ausflug. Beinahe hätte sie ein Darlehen von 25 Millionen Dollar erhalten. Dann flog sie auf. Während des Prozesses tauchte sie in wechselnden High-Fashion-Garderoben auf, kam trotzdem in den Knast und wurde weltberühmt.
Netflix kaufte die Rechte an ihrer Story. Anna wird in der Miniserie von Julia Garner gespielt. Die Schauspielerin hat die Trickbetrügerin getroffen und fand sie "eigentlich sehr süß", sie spielt sie kühl, narzisstisch, mit kurzen Einbrüchen wirklicher Gefühle, von denen man nie genau weiß, ob sie nicht doch kalkuliert sind. Wir betreten Annas Welt aber nicht aus ihrer Sicht, sondern aus der von Vivian (Anna Chlumsky), einer Journalistin. Viv ist hochschwanger und arbeitet für das Manhattan Magazine. Nach einem journalistischen Fauxpas wurde sie in ihrer Redaktion nach "Scriberia" verbannt, jenem Teil des Hauses, in das man "alte Schreiber" zum Sterben schickt. Dort sitzt sie mit ihren Kollegen Maud, Lou und Barry. Sie unterstützen Viv bedingungslos und loyal in all ihren Vorhaben - denn Vivian setzt sich in den Kopf, über die zu dem Zeitpunkt noch unbekannte Anna zu schreiben, und beginnt, sie regelmäßig im Gefängnis zu besuchen.
Dort darf sie sich von der "Millionenerbin" liebenswürdige Sätze wie "Why are you wearing that? You look poor" oder "Are you pregnant or are you just so very, very fat?" anhören. So beginnt ihre investigative Entdeckungsreise in die Welt der Reichen und Schönen, die Welt der beheizten Badezimmerböden, Privatyachten, Start-up-Menschlein, Investoren. Es wäre unzutreffend zu sagen, dass diese Welt "schön scheint", denn das tut sie nicht. Jeder in ihr ist sich selbst der beste Freund, und voran kommt, wer das auch ausspricht. Darin ist "Inventing Anna" zugleich die Geschichte der Entstehung der Geschichte - man sieht die Wege der beiden Frauen, Annas und Vivians. Was beide verbindet, ist, dass sie permanent damit beschäftigt sind, irgendjemanden von irgendetwas zu überzeugen. Das ist der eigentliche Fokus der Serie: Leute, die andere Leute überzeugen, zu tun, was sie wollen. Zwischendurch wird, wie es sich gehört, das Patriachat angeklagt. "Men fail upwards all the time", sagt Anna über einen Banker, den sie um seinen Ruf gebracht hat.
Das Casting ist klar darauf ausgerichtet, die Betrügerin auch zur Sympathieträgerin zu machen
Die Stärke der Serie ist, dass sie diese "einfachen" Lösungen zwar andeutet, aber auch immer entlarvt. Vivian will später im Serienverlauf herausfinden, was Anna zu dem "Monster" gemacht hat, das sie ist, und besucht deren Familie in Deutschland. Sie ist sich nahezu sicher, dass der Vater ein heimlicher Oligarch, ein Gangster oder wenigstens ein um sich schlagender Alkoholiker war. Doch so einfach ist es nicht.
Anna war, so sagt sie selbst, immer schon Anna. Wie weit ihre kriminelle Energie reicht, muss offenbleiben. Das Casting ist klar darauf ausgerichtet, die Betrügerin auch zur Sympathieträgerin zu machen. Von fern grüßt dennoch Mr. Ripley. Anna betont die ganze Zeit, wie wichtig es sei, junge weibliche Unternehmerinnen zu fördern - sie benutzt diese Erzählung, aber wie viel hat ihre Story wirklich mit Subversion gegen das Patriarchat zu tun? Schnell gerät damit die eigentliche Pointe der Hochstapelei aus dem Blick — nämlich wie sie die Distinktionsrituale der Reichen als bitterernsten Karneval entlarvt und damit ein Schlaglicht auf die absurden sozialen Klassenunterschiede wirft. Betrügern wie Betrogenen geht es zuallererst um Geld und Macht. Darum, in der Pyramide ganz oben zu stehen. Sie sind vereint in der Gier. Die fundamentalste Diskriminierung besteht in der Verachtung der Armen. Die kommen in "Inventing Anna" nur als Schimpfwort vor. "You look poor."
Anna ist kein verkannter Robin Hood, sie verachtet die Armen so sehr wie alle anderen in dieser Serie. Alle wollen zuallererst zu den Gewinnern gehören. Reiche Menschen haben es nicht leicht in Film und Fernsehen. Das mag daran liegen, dass ein luxuriöses Leben von außen immer etwas lächerlich aussieht - wer gibt schon gerne zu, dass er jemanden braucht, den er dafür bezahlt, dass er ihm morgens die Zähne putzt? Trotzdem boomen Formate über Trickster, kurz vor "Inventing Anna" ist "The Tinder Swindler" erschienen, wo es ebenfalls um einen Trickbetrüger geht. Sie bedienen Voyeurismus, den Wunschtraum, selbst im Geld zu schwimmen, und Häme als Neidventil gleichermaßen. Dabei hinterfragen diese Geschichten nie das Ziel, so reich wie möglich zu sein. Die echte Anna musste von dem Netflix-Geld ihre Opfer entschädigen und klagt in einer Stellungnahme über ihre Haftbedingungen - es wurde nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis vom ICE einkassiert. Anna Sorokin hat nicht vor, die Serie zu sehen. Julia Garner sagt, sie respektiert das.