Süddeutsche Zeitung

Internet:Hiobsbot

Findige Programmierer haben eine Anwendung kreiert, die automatisch twittert, was Medienleute bei Wikipedia ändern. "Fünfte Gewalt" nennt sich (nach der "Vierten", den Medien) dieser Bot zur Medienbeobachtung.

Von Bernd Graff

Webseiten wie Wikipedia verfügen über sogenannte application programming interfaces, kurz APIs. Das sind meist sehr nützliche Programmierschnittstellen in Betriebssystemen und Datenbanken, die anderen Programmen Zugriff auf ihre Bestände gestatten. Die zugreifenden Programme können diese Daten dann automatisiert für neue Funktionen nutzen. Eines der originellsten Beispiele hierfür ist auf listen.hatnote.com zu finden. Diese Seite greift die Datenbestände von Wikipedia ab und transformiert jede Textmanipulation in einen melodischen Ton. Glocken erklingen für Textergänzungen, Saiten werden für Kürzungen angeschlagen.

Das ist hübsch, aber nicht halb so informativ wie jene Twittereinträge, die immer dann automatisch erstellt werden, wenn Wikipedia-Einträge zwar anonym, aber dennoch erkennbar von einer bestimmten Klientel geändert werden. Dazu haben findige Programmierer die Spanne von Internetadressen, die etwa dem US-Congress, dem deutschen Bundestag, aber auch internationalen Verlags- und Medienhäusern, Fernsehanstalten und Radiosendern zugeordnet sind, an sogenannte Bots übergeben, die jetzt vor den Wikipedia-Seiten in 38 Sprachen auf der Lauer liegen. Bei jeder anonym getätigten Änderung, die von einer der gelisteten Adressen erfolgt, schlagen sie an. Sie twittern automatisch jede Änderung, die anonym aus dem US-Congress (@congressedits), dem Bundestag (@bundesedit) oder von einem Medienangehörigen (@5thEstateWiki) erfolgt. So erfährt man, dass es jemandem vom WDR wichtig war, den Artikel zu Karl Mays "Orientzyklus" um den Vermerk einer Hörspielfassung durch den WDR zu bereichern. Oder jemand aus dem taz-Umfeld ergänzte den Eintrag der Bremer Finanzsenatorin Karo Linnert. Und beim SWR sah sich jemand am 30. August um 10.36 Uhr bemüßigt, die Typenreihen des 3er BMW zu vervollständigen. "Fünfte Gewalt" nennt sich (nach der "Vierten", den Medien) dieser Bot zur Medienbeobachtung. Vielleicht deckt er wirklich eines Tages die versuchte Wahrheitskorrektur von Medienleuten auf. Schon jetzt aber dürften die Arbeitgeber dieser abgelenkten Medienleute ein starkes Interesse an den Wiki-Aktivitäten ihrer Mitarbeiter haben.

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Quelle:
SZ vom 06.09.2016
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