Arte-Serie:Suchtstoff mit Seele

Arte-Serie: Therapeuten unter sich: Philippe (Frédéric Pierrot) und Claire (Charlotte Gainsbourg) in der Serie "In Therapie".

Therapeuten unter sich: Philippe (Frédéric Pierrot) und Claire (Charlotte Gainsbourg) in der Serie "In Therapie".

(Foto: Manuel Moutier)

Die französische Erfolgsserie "In Therapie" geht bei Arte weiter - mit Charlotte Gainsbourg in einer Hauptrolle.

Von Claudia Tieschky

Da ist es also wieder, dieses melodische, dezente Ding-Dong, die Türglocke des Therapeuten Doktor Philippe Dayan. Ach, von wegen Türglocke! Dieses Klingeln ist auch in der zweiten Staffel wieder an uns gerichtet, genauso wie das Läuten im Theater. Nehmen Sie die Plätze ein, gleich geht es los.

Als vor gut einem Jahr die erste Staffel der grandiosen französischen Serie In Therapie bei Arte lief, war das so ein kleines Wunder, wie es sich im Seriengeschäft oft ereignet, wenn das Publikum etwas so heftig zu lieben beginnt, wie man es dieser launischen, leicht zu verlierenden Kundschaft gar nicht zugetraut hätte. Ein Wunder, das absolut nicht kalkulierbar war, In Therapie wurde die erfolgreichste Arte-Serie bis heute, mit insgesamt 50 Millionen Videoabrufen in der Mediathek und im Schnitt 1,8 Millionen Zuschauern pro Folge im Fernsehen. Und was für ein herrlicher Trick mit einem Möbel: Die auf der Fernsehcouch wollen unbedingt die auf der Therapiecouch sehen.

Es klingelt also wieder, Dayan beendet vielleicht irgendeine kleine Verrichtung, strafft sich, bekommt sein konzentriertes Zuhörergesicht und öffnete die Tür. In Therapie, nach dem Vorbild der israelischen Serie BeTipul erdacht von Éric Toledano und Olivier Nakache, bestand schon in Staffel eins im Wesentlichen aus Gesprächen während der Sitzungen zwischen Doktor Dayan (Frédéric Pierrot) und seinen Patienten. Es sind jetzt eben nur andere Menschen, die in der immer gleichen, bei Dayan offenbar extrem unaufgeregten Abfolge der Wochentage zur Sitzung an der Tür klingeln. Und dann erzählen sie auf der roten Couch von ihren Nöten und Ängsten und bearbeiten sie mit dem stets zugewandten, nicht so leicht zu täuschenden Dayan in seinem Lederstuhl.

Doktor Dayan ist jetzt geschieden, haarwuchsmäßig leicht verwildert, und er hat neue Patienten

Der ganz entscheidende Punkt aber war in Staffel eins: Dayan bearbeitete zugleich die Psyche des ganzen verletzten Landes. Seine Patienten waren innerlich auf sehr unterschiedliche Weise wund von den Terroranschlägen im November 2015, es war das sensationelle Wagnis, ein nationales Trauma so einzuflechten, dass man es sehr gut binge-watchen konnte. Bei Adel Chibane etwa, Polizist in einer Spezialeinheit, führte die Aufarbeitung des Schockeinsatzes im Bataclan nach und nach quasi psychoforensisch zurück zu einem verdrängten Massaker, dessen Zeuge er als Kind wurde. Und wenn die Patienten weg waren, sah man in den wenigen Sequenzen außerhalb des Therapiezimmers, wie sich der stille, geduldige Dayan selbst verheddert hatte, wie er sich seiner Supervisorin (großartig würdevoll gespielt von Carole Bouquet) anvertraut, und wie er dem Werben der schönen, komplizierten Unfallchirurgin Ariane (Mélanie Thierry) - dem er den Berufsregeln zufolge niemals hätte nachgeben dürfen - schließlich nachgab.

Arte-Serie: Inès Dialo (Eye Haïdara) war vor 23 Jahren schon einmal Dayans Patientin - und wird es nun wieder.

Inès Dialo (Eye Haïdara) war vor 23 Jahren schon einmal Dayans Patientin - und wird es nun wieder.

(Foto: Manuel Moutier)

Die neue Staffel setzt vier Jahre nach diesen Ereignissen ein. Sie skizziert in wenigen Einstellungen die neue Lage - Dayan geschieden, haarwuchsmäßig leicht verwildert, Haus im Vorort, Kaffee ist ausgegangen - und stellt dann schnell, so unwahrscheinlich das ist, mit den neuen Protagonisten noch einmal die gleiche Spannung her. Der Doktor muss sich einem Prozess stellen, denn der Polizist Adel hat die Therapie beendet, ist nach Syrien in den Kampf gegen den IS gezogen und umgekommen. Seine Familie sieht diesen Tod als eine Art Suizid, den sein Arzt hätte verhindern müssen. Die erste Folge spannt Vergangenheit und Zukunft zusammen: Bei der Prozessvorbereitung mit seinem Anwalt (die Sache erlaubt später eine kleine Eskapade ins Genre des Gerichtsfilms) trifft Dayan die Juristin Inès. Vor zwanzig Jahren war sie seine Patientin, nun wird sie es wieder, das Schuldgefühl einer Abtreibung mit 17, ein Fluch ihrer dominanten Familie und ein unerfüllter Kinderwunsch treiben sie um. Bei ihrem Wiedersehen flüstert sie ihm zu: "Sie schulden mir noch ein Kind."

Über allem hängt nun Corona statt Terror; in Frankreich galten monatelang viel strengere Lockdowns als in Deutschland. Der alte Manager Alain poltert mit seinem ganzen digitalen Equipment in die Praxis und sucht Krisenmanagement: Eine Angestellte hat sich im Home-Office umgebracht. Die Architekturstudentin Lydia ignoriert, dass sie in Lebensgefahr ist. Léonora und Damien, das Katastrophen-Ehepaar aus der letzten Staffel, schickt jetzt seinen Sohn Robin zu Dayan. So viel kann man verraten: Philippe Dayan tut mehrmals Dinge, die über die Aufgaben eines Therapeuten hinausgehen. Seine neue Supervisorin Claire Brunet führt ihn dann auch noch, obwohl er sich sträubt, zurück zu seiner eigenen Familiengeschichte. Diese Claire wird bemerkenswert zart und zurückhaltend gespielt von Charlotte Gainsbourg, die nicht nur eine wundervolle Schauspielerin ist, sondern deren Familie mit Mutter Jane Birkin und Schwester Lou Doillon sozusagen zum Adel im französischen Kulturbetrieb gehört. Und natürlich sagt diese Besetzung etwas aus über den Nimbus, den In Therapie in Frankreich hat.

Arte-Serie: Frédéric Pierrot als Therapeut Dayan, der sich widerwillig auch mit seiner eigenen Familiengeschichte auseinandersetzt.

Frédéric Pierrot als Therapeut Dayan, der sich widerwillig auch mit seiner eigenen Familiengeschichte auseinandersetzt.

(Foto: Les Films du Poisson)

Wenn man den enormen Erfolg dekodieren will, den Sog, der in der neuen Staffel anders, aber genauso stark ist wie in der ersten, dann vielleicht mit ihrem Prinzip des Geschichtenerzählens selber. Ist es vielleicht diese trickreiche Versuchsanordnung, die jetzt, wo der Roman angeblich tot ist, eine andere, ideale Form für zeitgemäßes Erzählen ermöglicht? Die Psychologie einer Figur, die andere Geschichten sonst erst aufwendig etablieren müssen, ist ja praktischerweise gleich das Hauptthema der Handlung. Und das Außen, das angeblich, so behauptet es die Kamera, in dieses Zimmer ja nicht hineinkommt, ist natürlich trotzdem da: Man sieht alles es vor sich, die Wohnung der Anwältin Inès, die Corona-Station, in der Dayan seinen Vater zum ersten Mal seit Jahren besucht, das wilde Meer aus Alains Kindheit, die ganze Welt. Wir sind vielleicht nicht alle reif für die Couch, aber begierig auf gutes Erzählen. Oder wie der berühmte Satz, den Dayan einmal zitiert: "Wir leben, weil wir uns Geschichten erzählen."

Unter dem Vorwand der Therapie erzählt diese kleine Serie in Wirklichkeit einen großen Gesellschaftsroman. Und da praktischerweise alle Folgen nur 20 bis 30 Minuten lang sind, fühlen sich die Abgründe grundsätzlich beherrschbar an, ungefähr so wie Kalorienangaben für sehr kleine Portionen - bei denen es natürlich nie bleibt. Man hat schon in der ersten Staffel so einiges gelernt über den zuckrigen Suchtstoff fremder, irgendwie vertrauter, verhedderter Seelen.

In Therapie, Arte, donnerstags, 22.30 Uhr, jeweils fünf Folgen; alle Folgen sowie die erste Staffel in der Arte-Mediathek.

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Serie "In Therapie" auf Arte
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Die Regisseure Olivier Nakache und Éric Toledano setzen Frankreich auf die Couch. Ihre brillante Arte-Serie "In Therapie" enthüllt, unter anderem, die seelischen Folgen des Terrorjahres 2015.

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