Wenn eine Bombe hochgeht, wenn ein Amokläufer unterwegs ist, gibt es eine Phase, die die Polizei "Chaosphase" nennt. Dann ist erst mal nichts klar, man kennt keine Hintergründe und muss auf alles gefasst sein. Erst allmählich klären sich die Dinge. Die Polizei ermittelt, wer der Mensch ist, der da schießt oder einen Sprengsatz gezündet hat: Sie weiß dann auch, wo er wohnt und - mit Glück - nach mehreren Tagen, was ihn getrieben hat. Der wichtigste Faktor für die Erkenntnis ist die Zeit: Die muss man sich nehmen, um den Dingen auf den Grund zu gehen.
Diese "Chaosphase" gibt es auch für Journalisten. Auf die Reporterinnen und Reporter, die in Ansbach, in München, in Würzburg unterwegs sind, prasseln völlig ungefiltert Informationen ein: Schießerei am Stachus. Bewaffnete am Isartorplatz. Terroranschlag nach dem Muster von Paris. Drei Täter im Stadtgebiet unterwegs. In Ansbach hieß es zunächst: Gasexplosion in einer Gaststätte. Nur weil die SZ mitbekam, dass der bayerische Innenminister Joachim Herrmann nach dieser - eigentlich eher harmlosen - Nachricht sofort die Sendung "Hart, aber fair" in Berlin verließ, konnte die Redaktion frühzeitig erkennen, dass es wohl nicht nur eine Gasexplosion war. Sondern der erste Selbstmordanschlag auf deutschem Boden.
In diesem Moment muss eine Redaktion entscheiden, was sie berichtet und was nicht
In der Chaosphase sehen auch die Reporter auf ihren Handys nur die Twitternachrichten, die sich überschlagen, sie sehen, wie sich auf Facebook immer neue Augenzeugen äußern dazu, wo überall Terroristen gesichtet werden. Und sie müssen diese Informationen gegenchecken mit dem, was sie vor dem Olympia Einkaufszentrum in München, am Stachus oder in der Altstadt von Ansbach selbst sehen - wenn sie denn bis dorthin vordringen. Selbst wenn das gelingt, bringt das nicht sofort Gewissheit: Kolleginnen der SZ waren in der Nacht des Amoklaufs am Stachus, sie befragten Polizisten. Und die sagten ihnen: Es seien gerade Schüsse zu hören gewesen. Heute weiß man, dass es dort keine Schüsse gab. Doch was tut man in dieser Situation?
In diesem Moment muss eine Redaktion entscheiden, was sie berichtet und was nicht. Während eine Zeitungsredaktion zumindest ein paar Stunden zum Nachrecherchieren der Hinweise hat, muss eine Online-Redaktion sofort entscheiden, was sie weitergibt. Innerhalb von Minuten muss dann entschieden werden, ob man den Hinweis auf eine Schießerei am Stachus auf die Homepage nimmt oder nicht. Die Entscheidung muss fallen zwischen der Warnung, dem möglichen Schutz von Menschenleben und dem weiteren Schüren von Hysterie. Die SZ hat sich entschieden, über die Hinweise des Polizisten am Münchner Stachus zu berichten - wenn auch nicht als feststehende Wahrheit, sondern als Möglichkeit. Denn die SZ will ihren Lesern auch nichts vorenthalten, was für sie wichtig sein könnte. Die Leser sind mündig, sie brauchen die Zeitung oder das Online-Angebot als verlässliche Informationsquelle, nicht als beschützende Werkstatt.
Twitter:Wie sich nach Attentaten Gerüchte verbreiten
Nach den Morden von Nizza und München kursierten in sozialen Medien hanebüchene Falschmeldungen. Zum Glück gibt es ein wirksames Gegenmittel.
Dennoch bringen und zeigen wir nicht alles: nicht das Bild des Ansbacher Attentäters, das ihn in der Pose eines coolen Helden zeigt, nicht sein Bekennervideo, das es natürlich im Netz gibt. Wir schreiben nur die wichtigsten Nachrichten daraus: nämlich, dass der Attentäter als nächste Eskalationsstufe des IS in Deutschland Autobomben androht. Aber wir glorifizieren ihn nicht, indem wir ihm möglichst viel Platz einräumen. Das sind die ersten Entscheidungen, die man in so einer Situation treffen muss.
Oft bleiben die Informationen dann aber stundenlang sehr widersprüchlich - und das beißt sich mit der Erwartung der Leser, die Gewissheit haben wollen und zwar sofort.
Doch die belastbaren Tatsachen schälen sich erst allmählich aus dem Wust an Informationen heraus, die minütlich auf die Redaktion einprasseln. Vieles lässt sich erst nach mehreren Tagen wirklich klären - das ist keine böse Absicht, das heißt nicht, dass die SZ etwas verschweigen will, sondern: Sie weiß es einfach nicht. Genauso wenig wie die Ermittler.
Ein Beispiel: Wie lautet der Name des Amokläufers von München? Heißt der Mann nun David S., wie ihn die SZ nennt, oder Ali David S., so wie ihn andere Medien nennen? Oder gar Ali Dawoud S., in arabischer Schreibweise, wie er in manchen Mails an die SZ genannt wird, in denen erregt gefragt wird, warum wir seinen echten Namen verschweigen. Die SZ hat die Frage des Namens bereits am Morgen nach dem Amoklauf mit amtlichen Stellen erörtert. Die Antwort: In seinem Reisepass steht David S. Seine Schulkameraden nannten ihn aber Ali. Erst sechs Tage später stellte sich heraus, dass der Amokläufer erst Anfang Mai seinen Namen in allen amtlichen Dokumenten in David hat ändern lassen - direkt nachdem er volljährig geworden war. Von einem Dawoud jedoch war noch nie etwas zu lesen - das entspringt eher dem Wunsch mancher Bürger, den Amokläufer zusätzlich als Fremden zu markieren. Geboren und aufgewachsen ist der Mann in München.
Ethische Bedenken stehen oft dem Informationsbedürfnis der Leser entgegen
Und der Familienname? Auch seinen Familiennamen kennt die SZ, aber wir schreiben ihn nicht - im Gegensatz zum Beispiel zur Bild-Zeitung. Diesen Namen nennen wir ganz bewusst nicht. Denn der Amokläufer hat einen Vater, eine Mutter und einen kleinen Bruder, die unter diesem Namen weiter leben müssen. Vermutlich wird sich die Familie nicht in ihrer Wohnung, in den Arbeitsstellen halten können. Vermutlich wird sie wegziehen müssen. Das ist schwer genug. Die SZ möchte diese Familie nicht noch dadurch stigmatisieren, dass sie ständig ihren vollen Namen nennt.
Für diese Fragen gibt es keine vorgefertigten Antworten. Kein Rezept, das immer passt. Und natürlich kann man die Frage stellen, warum wir dann den Namen des Germanwings-Piloten Andreas Lubitz genannt haben, der ein Flugzeug mit 150 Menschen an Bord in den Alpen zerschellen ließ. Die SZ hat den Namen ausgeschrieben, weil es sich um ein bis dahin noch nie dagewesenes Verbrechen handelte. Aber natürlich wird auch innerhalb der Redaktion über diese Frage diskutiert. Auch den Namen von Anders Behring Breivik nennen wir - weil er in Norwegen überall mit vollem Namen genannt wird. Den Familiennamen des Winnenden-Attentäters Tim K. schreiben wir nicht, weil auch in diesem Fall aus unserer Sicht der Schutz der Familie vorgeht. Wir sind zurückhaltend, obwohl all diese Namen natürlich im Internet zu finden sind.
Beim Zeigen von Bildern von Attentätern verfahren wir ähnlich: so viel wie nötig, nicht mehr als nötig. Aber wir entscheiden nicht wie die französische Zeitung Le Monde, dass wir gar keine Bilder mehr von Attentätern zeigen.
Journalismus ist Abwägungsache. Ethische Bedenken stehen oft dem Informationsbedürfnis der Leser entgegen. Und die Abwägung muss nicht wie vor Gericht nach langem Nachdenken und in endlosen Sitzungen erfolgen, sondern in Minutenschnelle. Eine Situation, in der Fehler gemacht werden. In der man aber auch Fehler so gut es geht vermeiden muss. Oder sich korrigieren muss, wenn es Fehler gab. Transparenz ist wichtig und Verantwortungsbewusstsein: Denn natürlich wollen wir durch unsere Berichterstattung niemanden zu Nachahmungstaten animieren. Aber das Verschweigen von schrecklichen Taten ist keine Lösung. Und es hat nichts mit Journalismus zu tun.
Bei all dem sind wir uns bewusst: Die SZ wird nicht als Aufputsch-Mittel gebraucht, um die Aufgeregtheit noch zu verstärken, sondern als verlässliche Leitschnur durch das unübersichtliche Chaos der Meldungen. Alles andere können die Leser dann ganz allein.