Im Gespräch: Olivier Toscani:"Fernsehen macht aus Menschen Idioten"

Ausgerechnet Fotograf Oliviero Toscani, der mit seinen Benetton-Kampagnen weltweit für Aufsehen sorgte, sitzt nun in der Jury bei Artes erster Castingshow. Warum nur?

Stephan Seiler

Der deutsch-französische Kulturkanal Arte wird in diesem Jahr erstmals eine Castingshow ausstrahlen. Gesucht werden hier weder Popsänger noch Nachwuchsmodels - in der Sendung "Photo for Life" sucht Arte einen neuen Superfotografen. Aus 600 Bewerbungen werden sechs Kandidaten ausgewählt, die dann in einer Art Workshop ihr Können unter Beweis stellen. Die fünf TV-Episoden werden Ende 2011 auf Arte ausgestrahlt. Chef der Jury ist der italienische Fotograf Oliviero Toscani. Der 69-Jährige wurde in den achtziger und neunziger Jahren mit seinen Fotos für Werbekampagnen des Modelabels Benetton berühmt. Unter dem Slogan "United Colors of Benetton" setzte er damals unter anderem Todeskandidaten, HIV-Infizierte oder ein Flüchtlingsschiff in Szene. Eine Kampagne gegen die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten sorgte für einen Eklat, woraufhin Benetton und Oliviero Toscani ihre Zusammenarbeit beendeten. Toscani lebt in der Toskana.

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Mit Bildern von Todeskandidaten, HIV-Infizierten, Flüchtlingsschiffen oder Naturkatastrophen machte Oliviero Toscani einst berühmte Werbung für Benetton. Das Bild zeigt eine seiner Kampagnen für die Modemarke Nolita, die in Italien für Aufsehen sorgte.

(Foto: AFP)

SZ: Herr Toscani, warum sind Sie Fotograf geworden?

Oliviero Toscani: Es gab keine bestimmte Motivation. Mein Vater war Fotograf, dadurch lernte ich früh, mit Kameras umzugehen. Ich fragte mich oft, ob ich nicht etwas anderes tun könnte. Aber es war einfach eine tolle Zeit für Fotografen Anfang der sechziger Jahre. Ich konnte um die ganze Welt reisen, war überall, führte ein privilegiertes Leben. Und ich konnte dabei sein, als sich die Fotografie weiterentwickelte.

SZ: Nun sind Sie 69 Jahre alt und geben Ihren Namen für eine Talentshow her. Was erwarten Sie?

Toscani: Ich finde die Sendung interessant, weil ich wissen will, wie junge Fotografen heute denken. Kein Teilnehmer ist älter als 30 Jahre, darunter viele, die gerade das Studium beendet haben.

SZ: Ist es heute einfacher Fotograf zu sein als früher, als Bilder noch entwickelt werden mussten?

Toscani: Heute braucht keiner mehr eine große Kamera mit Objektiv, um Bilder zu schießen. Es reicht ein Telefon. Aber diese Kommunikationsmaschine macht noch keinen guten Fotografen, auch wenn viele das Gegenteil denken. Es sind ja auch noch lange nicht alle Autoren, nur weil fast alle lesen und schreiben können. Deshalb gibt es immer noch einen Bedarf an echten Fotografen, die mit ihren Bildern eine Geschichte erzählen. Die suchen wir in der Sendung.

SZ: Das Prinzip Castingshow funktioniert in Deutschland bisher so, dass vor allem die Sender profitieren - die Gewinner verschwinden in der Versenkung.

Toscani: Wir machen keine flache Show wie Germany's Next Topmodel. Bei uns reicht es nicht, gut auszusehen. Es geht um richtige Talente.

SZ: Das behaupten alle.

Warum wir Bilder nicht lesen können

Toscani: Ich glaube nicht, dass Photo for Life eine typische Castingshow ist. Wir sind eher ein Meisterkurs der Fotografie. Die Kandidaten kommen nicht her, um ihr Talent zur Schau zu stellen, sondern um es auszuarbeiten. Wir diskutieren in der Sendung, was Fotografie ist, kann und soll. Wir diskutieren jedes Bild. Es gibt keinen klassischen Sieger am Ende.

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"Revolution geht nur, wenn du Teil eines Systems bist. du musst es von innen aushöhlen": Fotograf Oliviero Toscani, Archivbild von 2004.

(Foto: Jaques Brinon)

SZ: Wenn eine Talentshow ohne einen Sieger produziert wird, muss es Arte sein.

Toscani: Das mag sein. Ich habe jedenfalls nur mitgemacht, weil es Arte ist. Eigentlich ist es meiner Meinung nach unmöglich, Kultur und Fernsehen zusammenzubringen. Beides sind Gegensätze. Fernsehen macht aus Menschen Idioten. Deshalb bin ich eigentlich für die Abschaffung des Fernsehens. Alles im TV wird vulgärer, nur Arte widersetzt sich dem. Deshalb mag ich den Sender.

SZ: Welche Aufgaben stellen Sie den Kandidaten?

Toscani: Zunächst müssen sie ein Selbstporträt machen. Dann sollen sie Porträts von Menschen in Berufen schießen, vom Anwalt bis zum Bauarbeiter. Und sie sollen ihren eigenen Schatten fotografieren. Das ist schwierig. Um deinen Schatten zu fotografieren, musst du in die Sonne oder vor ein Licht. Dann musst du dich bewegen, während du fotografierst. Du musst über Perspektiven nachdenken, über die Größe des Schattens, über die Umgebung. So ein Schattenfoto zeigt, wie man sich der Welt präsentieren will.

SZ: Werden die Bewerber auch politische Werbemotive produzieren, wie Sie es einst für Benetton taten?

Toscani: Nein, sie sollen nicht explizit Bilder für die Werbung produzieren, sondern für redaktionelle Beiträge. Es ist egal, ob sie in die Werbung wollen oder in den Journalismus. Es gibt nur eine Fotografie. Ein echter Fotograf ist jemand, der aufs Leben schaut. Das ist die Berufsbeschreibung.

SZ: Das alles mag interessant für Fotografen und Journalisten sein. Aber wer sonst soll sich das anschauen - gerade wenn es noch nicht mal einen Sieger am Ende geben wird?

Toscani: Jeder. Denn jeder macht Fotos, in der Familie, im Urlaub, auch auf Festen. Aber kaum einer hat gelernt, wie man Fotos richtig macht. Genauso wenige haben gelernt, wie man sie sich anschauen sollte. Wir lernen in der Schule zwar das Alphabet, aber nicht, wie wir Bilder lesen können. Wenn du Fotos oder Fernsehen anschaust, solltest du aber wissen, wie du die Bilder entschlüsseln kannst. Andernfalls wirst du von den Medien beeinflusst. Und das ist meistens nicht positiv. Deshalb bin ich sicher, dass die Sendung ein Erfolg wird.

SZ: Was halten Sie von der heutigen Werbe- und Magazinfotografie?

Toscani: Die Fotografie von heute langweilt mich. Fast alle machen dasselbe. Fotografen sind doch nur noch Teil eines Marketingsystems, das ich hasse. Ich habe gelernt: Wenn du etwas erfolgreich machen willst, musst du das Gegenteil von dem tun, was die Marketingleute dir sagen. Diese Personen ruinieren die Gesellschaft. Sie glauben zu wissen, was die Öffentlichkeit konsumieren soll.

SZ: Sie haben von diesen Leuten lange profitiert.

Toscani: Ja, ich war Teil des Systems. Revolution geht nur, wenn du Teil eines Systems bist. Du musst es von innen aushöhlen. Das habe ich bei Benetton versucht. Aber das heißt noch lange nicht, dass das System mir gefallen hat.

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