ARD-Film "Kruso":Ein Fleckchen Freiheit

Kruso

Jonathan Berlin als Ed liest Trakl am Strand von Hiddensee.

(Foto: MDR/UFA Fiction/Danas Macijauska)
  • Kruso ist die Verfilmung des gleichnamigen Buchs von Lutz Seiler aus dem Jahr 2014 über eine Aussteiger-Kolonie auf Hiddensee kurz vor der Wende.
  • Der Roman wurde mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
  • Der Film fängt die Schäbigkeit des sozialistischen DDR-Alltags genauso gut ein wie die Beklemmungen von Dauerüberwachung und Eingesperrtsein.

Von Viola Schenz

Hiddensee liegt westlich von Rügen, die Insel, deren Form an ein Seepferdchen erinnert, ist an ihrer schmalsten Stelle gerade mal 250 Meter breit. "Die Strömungsverhältnisse der Ostsee bewirken das langsame Abbrechen und Abdriften der Küste", erklärt der örtliche Betriebsferienheimdirektor. "Also wird sich auch der Klausner, unsere Arche, irgendwann auf den Weg machen." Mit dem Klausner geht es in diesem TV-Drama tatsächlich bald zu Ende, allerdings aus anderen Gründen.

Nach dem Tod seiner Freundin flüchtet Edgar "Ed" Bendler, Germanistikstudent aus Halle, vor dem Leben nach Hiddensee. Er heuert als Saisonkraft im Klausner an. Hungrig, durstig und verschreckt sitzt Ed (Jonathan Berlin) in seinem verwaschenen Blouson aus jeansartigem Material vor dem Direktor. Mit Ausflüglern ist er per Fähre auf die Insel gekommen, abends hat er sich abgesetzt und am Strand übernachtet. Das ist verboten. Es ist Sommer 1989, und noch haben die DDR-Grenzsoldaten Hiddensee unter Kontrolle. In der Nacht hat ihn jemand, der sich als "Kruso" vorstellt, vor deren Scheinwerfern und Gewehren in Deckung gebracht.

Kruso ist die Verfilmung des gleichnamigen Buchs von Lutz Seiler aus dem Jahr 2014 über eine Aussteiger-Kolonie, die sich philosophierend und lesend ein Fleckchen Freiheit im großen DDR-Gefängnis herbeifantasiert. Der in Gera aufgewachsene Autor arbeitete im Sommer 1989 im realen Klausner als Tellerwäscher. Sein Roman-Debüt wurde mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, es gibt Theaterfassungen und ein Hörspiel davon - klar, dass da auch die Verfilmung folgt, als Auftakt vermutlich etlicher Dokus und Filme über die Wendezeit vor bald 30 Jahren. Nico Hofmanns Ufa Fiction und der MDR haben auf der Kurischen Nehrung gedreht. Der MDR ist inzwischen spezialisiert auf DDR-Geschichten, Uwe Tellkamps Der Turm gehört zum Repertoire, ebenso Bornholmer Straße oder die Serie Weissensee.

"Die DDR ist überall, wo die DDR ist"

Kruso öffnet die eher ungewöhnliche Perspektive der Sinnsucher, Dissidenten und Fluchtwilligen und ihre Vorstellung von Freiheit in einem restriktiven System. Dafür mussten 480 Seiten Roman in 100 Filmminuten gequetscht werden. Thomas Kirchner (Buch) und Thomas Stuber (Regie und Buch) ist das gelungen, sie fangen die Schäbigkeit des sozialistischen DDR-Alltags genauso gut ein (der grau-beige Kamerafilter hilft ihnen dabei) wie die Beklemmungen von Dauerüberwachung und Eingesperrtsein, selbst auf einer Insel, von der man bei gutem Wetter bis nach Dänemark schauen kann. "Die DDR ist überall, wo die DDR ist", sagt einer bei Tisch.

Ed findet im Klausner ein neues Zuhause. Den Aufnahmetest - stundenlang Zwiebeln schneiden vor dem feixenden Küchenteam - besteht er, wenn auch ungeschickt und tränenreich. Kruso (Albrecht Schuch), der eigentlich Alexander Krusowitsch heißt, lebt seit 1971 auf Hiddensee. Damals hat sein Vater, ein sowjetischer General, ihn und seine Schwester Sonja nach dem Tod der Mutter hier zurückgelassen. Kruso nimmt Ed unter seine Fittiche - natürlich spielen Name und Idee auf Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe und auf dessen Gefährten Freitag an. Seine Einweisung in die Kunst des Abwaschens mit zu Schürzen geknoteten Tischtüchern und Einfetten der Hände gleicht dem Aufnahmeritual in eine religiöse Gemeinschaft. Nach der Arbeit spaziert er barfuß, in Schlabberhose und Leinenumhängetasche seine Hippiekolonie ab wie ein Guru seine Jünger. Er nennt sie "Schiffbrüchige", er will ihnen seine Idee einer inneren Freiheit nahebringen, sie vor dem Tod in der Ostsee bewahren. "Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will", zitiert er Rousseau. Sie sollen Grenzen überschreiten, ohne ein Land verlassen zu müssen.

Aus dem altmodischen Radio auf dem Küchenregal berichtet der Deutschlandfunk stündlich vom Zerbröseln der DDR und der massenhaften Ausreise über Ungarn. Kruso wird immer nervöser, er weiß, dass das Ende der DDR das Ende seiner Utopie bedeutet.

Als dann auch noch Hans-Dietrich Genschers Ansprache in der Prager Botschaft ausgestrahlt wird, rastet er aus und schleudert einen Bierkrug in das Gerät. Aber natürlich kann auch er nicht verhindern, dass die Zeit hier für alle auf ihre Weise zu Ende geht. Dabei zuzusehen ist bedrückend und befreiend zugleich.

Kruso, ARD, 20.15 Uhr.

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