Süddeutsche Zeitung

ARD-Film "Im Abgrund":Nichts für Chipsgemütlichkeit

"Im Abgrund" mit Tobias Moretti erinnert an den wahren Fall eines Frankfurter Polizeibeamtem und geht doch viel weiter. Ein herausragender Film über Polizeigewalt - und finsterste Abendunterhaltung.

Von Harald Hordych

Mit einem einzigen kleinen Schwenk macht dieser Thriller klar, dass der deutsche Wald nicht nur ein Platz zum Bäume-Umarmen ist. Mit dem Schwenk von dem so müden wie von einem fixen Gedanken starr gewordenen Gesicht des LKA-Beamten David Wallat auf das dichte, schier undurchlässig wuchernde Grün hat Regisseur Stefan Bühling bewiesen, dass er die Gesetze des Genrefilms verstanden hat und gewillt ist, sie konsequent in die Tat umzusetzen; schön langsam und genüsslich, mit der richtigen Dosis leise schwingender Unheilsmusik untermalt, wird das Bedrohliche ausgekostet.

Im Abgrund ist ein in jeder Einstellung, gerade auch in den ruhigen Momenten spannungsgeladener Film, der überdies eine ganz Menge riskiert, was das Jonglieren zwischen illegaler Polizeigewalt und den Fragen nach Recht und Gerechtigkeit, die dadurch aufgeworfen werden, angeht. Er ist ein Genrefilm, der richtig schiefgehen könnte, denn der Anspruch ist hoch. Das Ergebnis ist ein Stück beispielhaft finstere Abendunterhaltung, ohne jede Chipsgemütlichkeit.

Wallats Begegnung mit dem Wald am Rande eines Dorfes irgendwo im niedersächsischen Niemandsland markiert den Beginn eines Auftrags, den drei LKA-Beamte zu keiner Sekunde antreten wollten. Sie sind hier, weil ein Mann nach 15 Jahren freigelassen wurde, der nach ihrer Meinung niemals mehr hätte freikommen dürfen. Joseph Maria Hagenow hatte einen achtjährigen Jungen entführt und in einer Kiste unter der Erde gefangen gehalten. Das Kind verdurstete. Weil das Verschwinden eines zweiten Jungen gleichen Alters Hagenow nicht angelastet werden konnte, wurde er nur in einem Fall wegen Totschlags verurteilt. Der zweite Junge wurde nie gefunden. Wallat verfolgt der ungelöste Fall, er hat Visionen von dem verschwundenen blonden Kind.

Weil das Drehbuch überzeugt, behält man aufkommende Zweifel für sich

Von Alfred Hitchcock ist überliefert, dass der Regisseur "Wahrscheinlichkeitskrämer" verachtete, die seine Werke auf Verstöße gegen die Logik abklopften. Auch Im Abgrund könnte solche Zeitgenossen auf den Plan rufen: Würde das LKA wirklich drei Beamte für zwei Monate abstellen, um einen Mann zu überwachen, der seine Strafe abgesessen hat? Man nimmt Bühling und Drehbuchautor Arndt Stüwe diese Setzung ab, weil sich der Weg in den Abgrund überzeugend entwickelt.

Wallat ist dabei, weil seine Chefin ebenso wie er glaubt, dass Hagenow das Morden nicht sein lassen kann. Dieser Hagenow mietet sich beim Pfarrer (Florian Stetter) ein, der findet, dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient hat. Im Nachbarhaus hocken die Polizisten und beobachten 24 Stunden lang. Wallat hat die Nachtschicht. In einer dieser Nächte sieht er, wie Hagenow das Haus verlässt. Er verfolgt ihn, verliert ihn aber aus den Augen. Am nächsten Morgen ist der achtjährige Sohn der Frau fort, die dem Pfarrer den Haushalt führt.

Für Wallat und seine Kollegin Tina (beinhart: Tinka Fürst) ist die Sache klar. Für ihren Kollegen Eric (Simon Schwarz) muss Recht Recht bleiben. Ohne Beweise ist niemand ein Täter. Kurz und schnell steigert sich die unheilvolle Atmosphäre aus Rachlust der Dörfler an dem vermeintlichen Unhold und den Spannungen unter den Beamten. Schließlich entführen Wallat und Tina Hagenow und foltern ihn in einer leerstehenden Waldhütte. Das alles erinnert an den Fall des Frankfurter Polizeibeamten Daschner, der den Entführer und Mörder eines Kindes Gewalt androhte, um den Ort des Verstecks zu erfahren, weil er annahm, das Kind würde noch leben. Im Abgrund geht viel weiter. Wallat und Tina setzen Waterboarding ein, Tina versetzt Hagenow nach einer Provokation Dutzende Fausthiebe ins Gesicht. Hagenow beteuert seine Unschuld. Und die Beamten verlieren jede Integrität.

Was Bühling und Stüwe dem Zuschauer in diesen schwer zu ertragenden Szenen verweigern, ist die Legitimierung von Folter durch das Ergebnis, das am Ende jede Gewalt rechtfertigt. Das unterscheidet diesen Film von vielen US-amerikanischen Werken, wo Gewalt als Ultima Ratio gebilligt wird. Hier werden die beiden sofort suspendiert, die Überwachung wird beendet - aber der Junge bleibt verschwunden.

Tobias Moretti und Peter Kurth spielen zwischen Verletzlichkeit und Provokation

Was in der Nacherzählung dramatisch klingt, kann in der Umsetzung peinlich werden: Das Duell zwischen Hagenow und Wallat könnte ins Schmierige, ins angestrengt Duellhafte abdriften, die Entschlossenheit der Kollegin überdramatisch wirken, die moralischen Einwände von Eric schnell thesenhaft. Aber das Drehbuch hält die Dialoge durchweg verblüffend knapp und präzise, überfrachtet das wichtige moralische Thema nie und vermeidet das Pathos der Wichtigkeit von Recht und Zivilisation genauso wie das Pathos des Psychoduells.

Aber was wäre die Qualität von Vorlage und Regie ohne Schauspieler wie Tobias Moretti und Peter Kurth? Das Lakonische und Konzentrierte setzen zwei große Schauspieler mit wunderbarer Sachlichkeit und hintergründiger Emotion um, mit einem irrlichternden Spiel zwischen Verletzlichkeit und Provokation. Moretti als Hagenow und Peter Kurth als Wallat tragen diesen Film, glänzend unterstützt von Fürst, Schwarz und Stettner. Im Abgrund hätte ein kleiner schmutziger Film werden können, aber dank Regie, Buch, Kamera (Marco Uggiano) und Darstellern ist er ein großer zwielichtiger Film geworden.

Im Abgrund, Das Erste, Samstag, 20.15 Uhr.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5044132
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/tmh
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.