Hörspiel "Zerheilt":Unerwünschte Umarmungen

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(Foto: Illustration: Stefan Dimitrov)

Ein Porträt jüdischen Lebens in Berlin: Tobias Purfürst übersetzt die Foto-Ausstellung "Zerheilt" in ein spannendes und streitbares Hörspiel.

Von Stefan Fischer

Der Fotograf Frédéric Brenner streift durch Berlin, es ist Herbst. Die Blätter rascheln in dem Hörspiel Zerheilt unter seinen Füßen oder wenn eine Windböe sie verbläst. In ihm reift bei diesem Spaziergang die Idee zu einem neuen Foto-Projekt, die Blätter machen sie greifbar, lassen sie konkreter werden: Brenner will jüdisches Leben in Berlin porträtieren. Die ersten Bilder, die er im Kopf hat, assoziiert er mit dem Laub auf dem Boden.

Die Blätter sind abgestorben, irgendwann werden sie zu Humus, aus dem Neues wachsen kann. Von dem man aber nicht mehr auf das einstige Blatt zurückschließen kann. Mit dieser Natur-Analogie erklärt der Fotograf im Hörspiel Zerheilt, in dem er keinen Namen trägt, seinen Standpunkt. Was er zeigt auf den Fotografien, die zwischen 2016 und 2019 entstanden sind, ist, wie es in Zerheilt heißt, "ein Zusammenbruch aller Geschichte", deshalb "eine Geschichte der Abwesenheit" sowie "der Anwesenheit des Rätselhaften".

Brenners Bilder gehören seit vergangenem Jahr zur Sammlung des Jüdischen Museums Berlin. Der Fotograf macht nicht nur Aufnahmen seiner Protagonisten, sondern sammelt auch Notizen und Aussagen von ihnen. Eine große Bild-Text-Schau, ebenfalls mit dem Titel Zerheilt, der im Jüdischen Museum Berlin noch bis 24. April 2022 ausgestellt ist.

"Es ist anstrengender, mit einem Antisemiten zu leben als mit einem Philosemiten."

Tobias Purfürst nun löst die Texte von den Fotografien und montiert sie zu seinem 50-minütigen Hörspiel. Was erst einmal nach Zertrümmerung und Verstümmelung klingt, gelingt erstaunlich gut. Denn viele der Aussagen sind so scharf und prägnant, dass sie einen auch ohne fotografischen Kontext auf dieses riesige, verwinkelte, unüberschaubare Konfliktfeld zerren. Wo man unversehens selbst angesprochen wird.

Es geht in Zerheilt durchaus auch um Neonazis und Antisemiten. Aber mehr noch um die Hilflosen und die Zugeneigten. "Es ist anstrengender, mit einem Antisemiten zu leben als mit einem Philosemiten", sagt eine der porträtierten jüdischen Personen. Ein verstörender Satz. Er dokumentiert, wie schwer sich viele Jüdinnen und Juden damit tun, zum Objekt eines deutschen Aussöhnungsbegehrens zu werden. Gegenüber Antisemiten ist die Konfliktlinie klar für sie. Aber was ist mit den vielen Menschen, die Jüdinnen und Juden zur Projektionsfläche machen, auf der sie ihre eigene Schuld abarbeiten wollen? Wie umgehen mit jenen Konvertiten, die einen ausgeprägten Umarmungsdrang haben? Von Paul Celan stammt der Satz, der der Ausstellung und dem Hörspiel den Titel gegeben hat: "Sie haben mich zerheilt."

Zerheilt handelt von der Möglichkeit und der Schwierigkeit jüdischen Lebens in Berlin, aus jüdischer Perspektive. Genauer: aus jüdischen Perspektiven. Denn jeder und jede der Protagonisten hat eine eigene Sicht auf die Dinge. Manches deckt sich, manches widerspricht einander. Alles ist wahr.

Zerheilt, RBB Kultur, 25. Februar 2022, 19 Uhr.

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