Süddeutsche Zeitung

Hörspiel:Skandalöses Paar

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Der fünfte Band von Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" handelt von Marcel und Albertine, einem Paar, das im Paris des 19. Jahrhunderts Anstoß erregt. Die Hörspieladaption von "Die Gefangene" überzeugt auch dank ihrer Neugier.

Von Stefan Fischer

Marcel ist der Mann. Er ist auch derjenige mit einem Vermögen. Aber ist er tatsächlich der Mächtigere in dieser merkwürdigen Beziehung, die er mit der blutjungen Albertine führt?

Den ganzen fünften der insgesamt sieben Bände seiner Suche nach der verlorenen Zeit verwendet Marcel Proust auf dieses Paar, das Anstoß erregt in der Pariser Gesellschaft, weil es unverheiratet unter einem Dach lebt. Dabei ist diese Gesellschaft durchaus bereit, allerhand Ausschweifungen zu tolerieren, zumal sexuelle. Aber sie kann sich auch einer strengen Moral entsinnen, wenn ihr daran gelegen ist. Dann lässt sie Menschen gnadenlos fallen, demütigt sie öffentlich, sodass sich der Betreffende davon nie mehr erholt.

Es sind nicht Marcel und Albertine, denen dieses Schicksal widerfährt. Aber indem er einen Vertrauten Marcels den Gesellschaftslöwen und -löwinnen zum Fraß vorwirft, malt Proust in diesem Teilband einmal mehr aus, dass jede Beziehung in der gehobenen französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts neben einer inneren zwingend immer auch eine äußere Dimension hat. Dass es Privatsphäre nicht gibt und das Glück des Einzelnen von der Zustimmung der Einflussreichen abhängt.

Die Regisseure Iris Drögekamp und Hermann Kretzschmar stromern insofern genauso neugierig durch die privaten Gemächer wie die öffentlichen Salons in ihrer dreiteiligen Hörspieladaption von Die Gefangene. In die Salons möchte Marcel seine Albertine jedoch nicht lassen, denn er ist maßlos eifersüchtig - selbst dann noch, wenn er ihrer längst überdrüssig ist und nach einem feigen Weg sucht, sie loszuwerden. Aber da hat er die Rechnung ohne Albertine gemacht.

Michael Rotschopf und Lilith Stangenberg spielen dieses Paar, mit großem und doch zartem Format; sie schaffen runde Figuren, komplizierte Charaktere mit vielen Widersprüchen. Selbst in der kürzeren Fassung, die der SWR vorerst sendet, nimmt sich die Geschichte drei Stunden Zeit, um diese beiden Menschen zu ergründen, in ihren Absichten, ihren Sehnsüchten, ihren Ängsten, ihrer Abgebrühtheit. Es ist eine Geschichte der Konventionen genauso wie der Freizügigkeit. Elegante Subtilität und explizite Frivolität halten sich die Waage. Am Ende bleiben nur Erinnerungen. Auch ein paar gute.

Die Gefangene , SWR 2, 22.03 Uhr. Die weiteren Teile am 28. Mai und 4. Juni.

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Quelle:
SZ vom 14.05.2020
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