"Ich habe das Recht zu erleben, wie das Kind, das ich großgezogen habe, ein normales und anständiges Leben führt." Hat sie? Darüber streitet die Mutter mit ihrer Tochter seit Jahren. Die Mutter, jenseits der 60 und berufstätig als Pflegerin in einem Seniorenheim, sowie ihr halb so altes Kind haben stark voneinander abweichende Vorstellungen davon, wie eine sinnerfüllte Existenz auszusehen hat. Ganz bestimmt nicht, so die Mutter, indem man in einer lesbischen Beziehung lebt. "Das Mädchen putzt gut, kocht gut - warum heiratet sie nicht?"
Homosexualität: Schon dieses Wort verbietet sich die Mutter in dem Roman "Die Tochter" der koreanischen Autorin Hye-jin Kim, den Eva Solloch nun als 90-minütiges Hörspiel für den NDR inszeniert hat. Im Kern ist es ein Monolog der Mutter, gesprochen von Soogi Kang, in den ihre Tochter (Kotbong Yang), deren Lebensgefährtin (Kotti Yun) sowie einige Randfiguren immer wieder eindringen. Wodurch sie die Argumente und Ansichten der Mutter durcheinanderwirbeln. Doch an den Grundfesten von deren tiefer Prägung können sie nicht rütteln. Zu stabil, zu fest verankert ist dieses Weltbild.
Die Stärke der Vorlage und auch der Adaption ist es, dass keine der beiden Frauen die andere dominiert. Die Tochter hat trotz einer guten akademischen Ausbildung nur einen prekären Job als Lehrbeauftragte an einer Universität, der überdies gefährdet ist aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. Ihre wirtschaftliche Situation zwingt sie, gemeinsam mit ihrer Freundin wieder bei der Mutter einzuziehen. Dennoch ist sie nicht die Schwächere der beiden Frauen, da ihr Selbstbewusstsein und ihre Wehrhaftigkeit größer sind als bei ihrer Mutter.
Der wiederum geht es nicht darum, die Tochter nach ihrem individuellen Vorbild zu formen. Aus ihr spricht eine empathische Frau - das wird vor allem in den Szenen klar, die sie bei ihrer Arbeit als Pflegerin einer Demenzkranken zeigen -, die sich Glück oder jedenfalls Zufriedenheit nur vorstellen kann in der Erfüllung von Konventionen.
Und die sind in Korea offenkundig noch sehr dominant. Einmal betritt die Mutter das Zimmer der Tochter und ihrer Freundin und beobachtet die beiden Arm in Arm schlafenden Frauen. Eine Szene, die sich außerhalb ihres Vorstellungsvermögens befindet, auch wenn sie sie real vor sich sieht. Das Leben der Tochter liegt jenseits der Grenzen der mütterlichen Scham. Es geht nie darum, was womöglich die Nachbarn denken oder die Gesellschaft. Es geht um das ureigene, persönliche Unbehagen. Um eine Scham, für die die Mutter sich selbst hasst.
Die Besetzung des Hörspiels irritiert anfänglich, da Soogi Kang, die Darstellerin der Mutter, Deutsch mit Akzent spricht, anders als Kotbong Yang in der Rolle der Tochter. Bald versteht man aber die Funktion dahinter: Die Mutter spricht sehr wohl in ihrer Muttersprache, verliert darin aber den Halt, weil es ihr zunehmend schwerfällt, die Realität zu beschreiben. Eine leise, starke Geschichte, die ihre Wurzeln in Korea haben mag, aber nahe an einen heranwuchert.
Die Tochter , NDR Kultur, 8. März 2023, 20 Uhr.