Süddeutsche Zeitung

Hörspiel "Im Ungebundenen":Jenseits aller Grenzen

In seinem Hörspiel "Im Ungebundenen" pirscht sich der Musiker FM Einheit gemeinsam mit dem Schauspieler Jens Harzer an Gedichte Paul Celans heran.

Von Stefan Fischer

Das Hörspiel beginnt mit einem Rauschen, so als hätte man die Frequenz seines Radiogerätes nicht richtig eingestellt. Oder, ein zweiter Gedanke, als würde unter Druck irgendwo Dampf entweichen. Dann ein zweites Geräusch wie das einer unrund laufenden Maschine. Der Eindruck, man befände sich womöglich auf einem Industriegelände, verwischt jedoch, sobald Jens Harzer zu sprechen beginnt: "Ich lotse dich hinter die Welt", verheißt er mit seiner immer ein wenig somnambulen und stets unverwechselbaren Jens-Harzer-Stimme. Was mag das für ein fantastischer Ort sein, an dem man hinter die Welt gelangt?

Womöglich ist es der Eingang in ein Totenreich. Sei's drum, man kann sich der Faszination dieses geheimnisvollen Reviers hinter den Dampfschwaden oder dem Ätherrauschen kaum entziehen. Zu stark reizen diese ersten Sekunden die Neugier. Doch egal, wie weit man sich im weiteren Verlauf hineinhört in dieses Paralleluniversum, sämtliche Eindrücke bleiben Im Ungebundenen - so auch der treffliche Titel dieses Hörspiels. Der Musiker FM Einheit hat es konzipiert. Das heißt in diesem Fall: Er hat die Texte ausgewählt, die Musik komponiert und das Stück auch inszeniert.

Celans Lyrik gehört zum rätselhaftesten, was es in der deutschsprachigen Literatur gibt

Die Texte stammen von Paul Celan, dessen Lyrik zum Rätselhaftesten gehört, was es in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts gibt. Ihn auf den Dichter zu reduzieren, der am härtesten um eine literarische Sprache gerungen hat, mit der sich der Holocaust beschreiben lässt, greift zu kurz. Der Holocaust ist der Extremfall von Celans Schreiben, das jedoch ganz grundsätzlich um die Möglichkeiten der Sprache kreist, sich in die Grenzgebiete des Ausdrückbaren begibt.

FM Einheit, der als Schlagwerker Mitglied bei Palais Schaumburg und den Einstürzenden Neubauten war, denkt sein Hörspiel von der Musik her. Die ist per se schwerer deutbar als literarischer Text. Ihm gelingt es - und das gilt im selben Maß für Jens Harzer -, die hermetischen Gedichte Celans nicht noch weiter zu verraunen und mit immer weiteren Geheimnissen aufzuladen. Sondern sich in großer akustischer Klarheit an die Gedankenwelt, die Paul Celan in seinem Werk entworfen hat, heranzupirschen. Ohne dabei simplifizierend zu interpretieren.

Die Kompositionen sind überwiegend dynamisch, als Hörer wird man von ihnen durch die akustischen Räume getragen, die FM Einheit baut. Immer wieder verharrt er darin, lotet sie aus. Mal sind es klingelnde Sounds, mal zischende und wischende, mal melodische. Aber nie kommen sie auch nur in die Nähe einer sphärischen Esoterik. Und sie liegen nicht unter der Stimme Harzers, sondern stehen neben ihr. Musik und Text treten wechselweise in den Vordergrund.

Das Bild des Anfangs bleibt dabei bestehen: Man tritt in Nebelschwaden hinein, verliert die Orientierung, manchmal auch den Boden unter den Füßen. Und möchte während dieser knappen Stunde doch nirgends anders sein. Am Ende stellt sich die Ahnung eines Auswegs ein. Aber wie alles in diesem gespenstisch fesselnden Stück kann auch das genauso gut eine Schimäre sein.

Im Ungebundenen, HR 2, 27. November 2021, 23 Uhr.

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