Hörspiel "Bahnuntergangsstimmung":Ist ein Stein ein Stein?

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(Foto: Illustration: Stefan Dimitrov)

Sieben eingeschlossene Menschen sind sich nicht darüber einig, was passiert ist. Ein Hörspiel über die vielen Löcher im Boden der Tatsachen.

Von Stefan Fischer

Die Verschütteten können sich nicht einmal darauf einigen, dass sie von Steinen eingeschlossen worden sind, die links und rechts einer Bahnunterführung nach einem Erdrutsch die Ausgänge blockieren. "Sind Sie Geologin?", geht einer der Männer die Polizistin an, die sich ebenfalls in der Falle befindet, und unterstellt ihr zum wiederholten Mal, als Vertreterin der Staatsmacht die Bevölkerung einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Nur weil sie eben das Offensichtliche festgestellt hat, dass nämlich Steine den Weg hinaus aus der Unterführung blockieren.

Ein halbes Dutzend Menschen macht der Autor und Regisseur Richard Oehmann in seinem Hörspiel Bahnuntergangsstimmung zu einer Schicksalsgemeinschaft auf Zeit. Nur: Diese Menschen wollen partout keine Gemeinschaft sein. Jeder hat seine eigene Sicht auf die Dinge, die er zu einer eigenen Wahrheit stilisiert. Alle anderen sind für jeden jeweils: Lügner, Manipulateure, Faktenverdreher. Bestenfalls bilden sich Zweierallianzen, in denen sich zwei Personen in ihren Überlegenheitsgefühlen bestärken und mitleidig auf die übrigen, "rettungslos Uninformierten" herabschauen.

Die Befreiung der Eingeschlossenen gelingt nur teilweise - innerlich bleiben sie Gefangene

Erzählt wird diese Geschichte in Rückblenden, die Eingeschlossenen sind längst befreit worden - aus der Bahnunterführung, nicht jedoch aus ihrer verdrehten, egozentrierten Weltwahrnehmung. Die verbreitet jeder und jede in einem Buch. Es ist ein absurdes Ringen um die Deutungshoheit über das Erlebte. Auch um die eigene Bedeutsamkeit.

Natürlich hat Richard Oehmann mit dem Steinschlag, bei dem niemand zu Schaden gekommen ist, eine Harmlosigkeit ausgewählt, um von gesellschaftlicher Spaltung zu erzählen. Es sind nicht die großen Verschwörungserzählungen von angeblichen Mikrochip-Implantationen bei Corona-Impfungen oder von Journalisten, die aus dem Kanzleramt vorgeschrieben bekommen, was und wie sie zu berichten haben. Aufs erste Hören könnte man dem Autor insofern Verharmlosung vorwerfen für seine Posse mit unter anderen Ilse Neubauer, Gerd Anthoff und Jule Ronstedt, weil sie die Drastik des Problems unterspielt.

Das Gewitzte und dann eben auch Kluge an Bahnuntergangsstimmung ist aber genau das: Es verankert das Problem in einem dörflichen Alltag, in dem man sich nicht einmal mehr darauf einigen kann, dass ein Stein ein Stein ist. Die Verbreitung von Falschinformationen ist nicht das perfide Werk dunkler Mächte, sondern die hausgemachte Bereitschaft, selbst in simpelsten Zusammenhängen den faktenbasierten Konsens aufzukündigen. Und jeder Versuch, das ins Lächerliche zu ziehen, mag einen als Hörer zwar amüsieren. Doch Oehmann zeigt, dass man diese Verbohrten gar nicht mehr blamieren kann. Weil es nichts mehr gibt, für das sie sich nachträglich vor anderen genieren würden.

Bahnuntergangsstimmung, Bayern 2, 4. Februar 2022, 21.05 Uhr.

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