HBO-Serie "Big Little Lies":Und keine will es gewesen sein

Big Little Lies

Desperate Housewives: Madeline (Reese Witherspoon), Jane (Shailene Woodley) und Celeste (Nicole Kidman) werden in Big Little Lies in einen Mord verwickelt.

(Foto: HBO)

Kleine Stadt, großes Drama: Die düstere HBO-Seifenoper "Big Little Lies" besticht durch faszinierende Frauenfiguren - und einige der besten Schauspielerinnen der Welt.

TV-Kritik von Jürgen Schmieder

Und dann zeigt jemand mit dem Finger auf einen. Am ersten Schultag, vor allen Kindern, vor allen Eltern. Es ist die größtmögliche Demütigung für ein sechs Jahre altes Kind inmitten verhätschelter Gören, die von den Erwachsenen zu nichts weniger als Gottes Geschenk an die Welt verklärt werden. Ein kleines Mädchen ist gewürgt worden, der Schulhof wird zum Tribunal, der Schuldige wird aufgefordert, sich gefälligst selbst zu identifizieren - als er das nicht tut, soll das Opfer mit dem Finger auf den Täter zeigen.

Es ist in der faszinierenden Serie Big Little Lies völlig egal, auf welches Kind der Zeigefinger sich richtet und ob es tatsächlich der Bösewicht ist. Es ist auch völlig egal, welcher Erwachsene kurz darauf während einer Wohltätigkeitsveranstaltung getötet wird und wer der Mörder ist. Dieser Finger stupst keinen Dominostein an, der dann umkippt und durch eine Kettenreaktion die Handlung vorantreibt. Es ist vielmehr so, dass dieser erste Finger einen anderen Menschen in dieser Gemeinde berühren und demütigen soll. Der Beschuldigte jedoch fällt nicht um, er bewegt sich keinen Millimeter, sondern deutet selbst auf einen anderen Bewohner. Das geht so lange weiter, bis im Kreislauf der Schuldzuweisungen wieder ein Finger auf der ersten Person landet.

Es gibt genug Fingerzeigen in dieser Stadt, die im Gegensatz zum gleichnamigen Bestseller von Liane Moriarty nicht in Australien, sondern an der nordkalifornischen Küste liegt. Die Bewohner sind allesamt stinkreich, sie führen ein luxuriöses und scheinbar sorgenfreies Leben, in Wahrheit jedoch sind sie höchst unzufrieden und eifersüchtig. Sie alle sind verletzt, physisch oder psychisch. Die Hausfrau Madeline (Reese Witherspoon) hätte gerne einen aufregenden Ehemann wie ihre beste Freundin Celeste (Nicole Kidman) und zankt sich aus lauter Langeweile entweder mit der Geschäftsfrau Renata (Laura Dern) oder mit Bonnie (Zoë Kravitz), der Partnerin ihres Ex-Mannes. Alle versuchen, die eigene Existenz ein wenig erträglicher zu gestalten, indem sie das Leben der anderen ein bisschen weniger erträglich machen.

Es gibt keine sympathische Figur in dieser düsteren Seifenoper

In diese unheilige Dynamik gerät die weniger betuchte und alleinerziehende Jane (Shailene Woodley), die ihrem Sohn die bestmögliche Ausbildung auf einer öffentlichen Schule zukommen lassen und nebenbei den Vater ausfindig machen möchte. Die dunklen Geheimnisse der Stadtbewohnerinnen sind miteinander verknüpft. Im Laufe der sieben Episoden wird deutlich, dass sie alle mit dem Finger aufeinander zeigen müssen, um nur ja nicht selbst schuld zu sein an dem, was ihnen irgendwann mal passiert ist oder was ihnen gerade angetan wird - vom Ehemann, von einer anderen Frau, vom Mitschüler des eigenen Kindes.

Es gibt keine sympathische Figur in dieser düsteren Seifenoper, die Seelen dieser Frauen sind vernarbt oder vereist. Der Zuschauer bleibt zunächst kühler Beobachter, er darf schadenfreudig mit dem Finger auf all diese oberflächlich glücklichen Frauen zeigen, denen es in Wirklichkeit genauso beschissen geht wie einem selbst. Erst im Laufe der Serie bemerkt er: Das ist gar nicht das Leben der anderen - das ist das Leben der unseren. Was da passiert, das könnte jedem passieren.

Es ist völlig egal, auf wem der Zeigefinger landet und welches Kind seine Mitschülerin gewürgt hat. Es ist egal, wer tötet und wer getötet wird. Es ist jedoch eine bedeutsame Botschaft an die Welt, warum das alles passiert.

Sieben Stunden dunkles Vergnügen

Vor 20 Jahren wäre diese Botschaft auf der großen Leinwand zu sehen gewesen, im sogenannten goldenen Zeitalter serieller Formate wird diese Geschichte auf sieben Fernsehstunden gestreckt. Serien wie Mad Men, True Detective oder Breaking Bad sind für diese detailreiche Erzählweise gepriesen worden, es gibt mittlerweile sogar einen Begriff dafür: Slow Burn TV - langsam brennendes Fernsehen. Das Problem von Big Little Lies liegt darin, dass das Leben in der scheinbaren Idylle explodieren sollte - bisweilen jedoch flackert die Geschichte derart vor sich hin, dass der Zuschauer ein Stück Holz nachlegen möchte.

Regisseur Jean-Marc Vallée ("Dallas Buyers Club", "Wild") verleiht dem Drehbuch von David Kelley (L.A. Law, Ally McBeal) über Schnitt, Soundtrack (Janis Joplin, Alabama Shakes, Fleetwood Mac) und einen herrlich sarkastischen griechischen Theaterchor der Nebendarsteller einen Rhythmus, der über manch langatmige Passage hinweghilft. Und natürlich liegt es an einigen der besten Schauspielerinnen der Welt, dass diese sieben Stunden zu einem dunklen Vergnügen werden: Nicole Kidman etwa vermittelt in einer Szene bei der Psychologin allein über ihre Mimik ein komplettes Leben, Laura Dern und Shailene Woodley glänzen als neurotische Mütter, Reese Witherspoon schafft eine wunderbare Mischung aus urkomischem Plappermaul und tief verletzter bester Freundin.

Anti-Heldinnen, die bislang meist männlichen Figuren vorbehalten waren

"Ich habe mich bei den Dreharbeiten 25 Jahre lang so gefühlt wie Schlumpfine: Ich war die einzige Frau im Dorf mit mehr als 100 Männern. Jetzt konnte ich mich mit all den Kolleginnen austauschen", sagt Witherspoon beim Gespräch in Los Angeles: "Die Zeiten ändern sich langsam: Der Zuschauer bestimmt seit jeher, was gedreht wird - und die Produzenten begreifen, dass Frauen die mächtigsten Konsumenten sind und damit auch die wichtigste Zielgruppe für Serien. Frauen wollen weibliche Figuren sehen, die nicht nur Ehefrau von oder Mutter von sind, sondern mehr Tiefe haben."

Natürlich sind die Frauen in Big Little Lies auch Ehefrau von oder Mutter von, sie sind aber jene Anti-Heldinnen, die bislang meist männlichen Figuren (wie in den Serien Mad Men, True Detective oder Breaking Bad) vorbehalten waren. Die Frauen in Big Little Lies toben sich nicht in Stripclubs oder einer Werbeagentur aus, sondern auf dem Schulhof ihrer Kinder. "Es gibt fünf unglaubliche Rollen für Frauen in einem Projekt", sagt Witherspoon: "Wir haben uns die Zeit genommen, all die Geschichten zu erzählen - am Ende der siebten Folge wird deutlich, warum das wichtig und richtig war."

Witherspoon hat Big Little Lies produziert, sie war für Filme wie "Wild" und "Hot Pursuit" verantwortlich und hat sich gemeinsam mit Kidman bereits die Rechte an Moriartys aktuellem Roman "Truly Madly Guilty" gesichert. "Ich will an dieser Veränderung, die in Hollywood gerade stattfindet, aktiv beteiligt sein", sagt sie: "Faszinierende Frauenfiguren darf es nicht nur in unabhängigen Filmen mit Mini-Budget geben, sondern auch in größeren Produktionen. Menschen lernen durch Kunst etwas über das Leben. Sie müssen sich deshalb durch die Figuren in einer Fernsehserie repräsentiert führen."

Die Frauen in Big Little Lies - einer abgeschlossenen Miniserie ohne Druck, bei Erfolg womöglich eine zweite Staffel nachreichen zu müssen - sind überzeichnete Versionen verletzter Frauen, die so jeder kennen dürfte. So wie die männlichen Nebenfiguren überzeichnete Versionen von Vätern sind, die so jeder kennen dürfte. Es ist ein ziemlich düsterer Spiegel, der einem da vorgehalten wird. Das wirklich Wunderbare an Fernsehserien ist freilich, dass der Zuschauer mit einem Glas Wein auf der Couch sitzen und mit dem Finger auf diese Figuren zeigen darf - und keine Angst haben muss, dass jemand den Finger auf ihn selbst richtet.

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