"Hart aber fair" zur Verrohung unserer Gesellschaft:Bitte eine Gafferwand gegen Hilflosigkeit

Titel: 'Hassen, Pöbeln, Gaffen -  wie verroht ist unsere Gesellschaft?'

Frank Plasberg mit den Gästen seiner Sendung: Thomas de Mazière, Renate Künast, Sandro Poggendorf, Wolfgang Huber und Christian Pfeiffer

(Foto: © WDR/Oliver Ziebe)

Verroht die Gesellschaft zunehmend? Eine gute Frage - leider bleibt "Hart aber fair" nicht nur eine Antwort schuldig, sondern auch Ideen, was sich dagegen tun ließe.

TV-Kritik von Violetta Simon

Ein alter Mann liegt leblos auf dem Boden, niemand hilft. Feuerwehrleute werden von Gaffern bespuckt, Polizisten verprügelt. Und im Netz tobt der Hass.

So schlimm ist es also um uns bestellt. Verroht die Gesellschaft zunehmend, bestimmt Gleichgültigkeit unseren Alltag? Diese Frage hat Frank Plasberg am Montagabend bei Hart aber fair seinen Gästen gestellt.

Geladen waren: Innenminister Thomas de Mazière (CDU), Renate Künast von den Grünen, der Theologe Wolfgang Huber, der Kriminologe Christian Pfeiffer und der Journalist Sandro Poggendorf. Für Beispiele aus der Praxis sorgt Feuerwehrmann Jan Rühmling. Der Norddeutsche hatte seinem Ärger über Schaulustige, die die Feuerwehr bei einem Großbrand in Timmendorf bei der Arbeit behinderten, auf Facebook Luft gemacht - und dafür viel Beifall geerntet.

Was folgt, bleibt ein lauer Versuch, das Phänomen der Verrohung zu beschreiben. Zu neuen Erkenntnissen oder gar einer Lösung kommen Plasberg und seine Gäste an diesem Abend nicht. Eine wirkliche Debatte kommt auch deshalb nicht in Gang, weil sich alle in der Gesprächsrunde einig sind, wie schlimm das alles doch sei.

Eine Debatte über Symptome statt Ursachen

Also begnügt man sich zunächst damit, aus dem Nähkästchen zu plaudern. Kriminologe Pfeiffer erzählt, wie er die Polizei holte, weil eine Frau ihre Tochter geschlagen habe - das sei schließlich verboten. Theologe Huber bekräftigt, dass er sich durchaus gelegentlich einmische, auch wenn ihm gerade kein Beispiel einfalle. Künast will ebenfalls noch eine Episode loswerden: Als sie eine schreiende Mutter anging, hatte das Mädchen am Ende gar vor Künast Angst. Die Moral dieser Geschichte wollen wir lieber nicht zu Ende denken.

Immerhin bringt Künast etwas Bewegung in den Abend - teils durch Zwischenrufe, teils durch maßregelnde Anmerkungen ("Wir sagen nicht Ehrenmord, Herr Pfeiffer!"). Die Grünen-Politikerin sieht in dem Video, das einen 82-Jährigen zusammengebrochen am Boden in einer Bankfiliale in Essen zeigt und das kürzlich große Empörung auslöste, eine Aufforderung, eine gesellschaftliche Debatte sowohl an Schulen als auch am Stammtisch zu führen: "Wie wollen wir, dass andere mit uns umgehen?"

Auf Plasbergs Erwiderung, dass sie eine solche Debatte gerade führten, entgegnet Künast unbeirrt: "Da braucht es mehr als eine Sendung, die nicht gerade alle 80 Millionen Bundesbürger ansehen." Dies hätte der Impuls für eine lösungsorientierte Debatte sein können, die sich mit Ursachen befasst, statt mit Symptomen. Hilfreich wäre womöglich gewesen, wenn auf einem der Stühle ein Sozialpsychologe sitzen würde. Der könnte zumindest fundiert erklären, warum Menschen über einen am Boden liegenden alten Mann hinübersteigen, statt zu helfen.

Absurditäten und viel Hilflosigkeit

Stattdessen werden Maßnahmen vorgestellt, die mitunter ins Absurde driften, wie zum Beispiel eine Schutzweste für Feuerwehrleute, die Messerstiche und Kleinkaliber abhält. Oder die "Gafferwand", laut Plasberg eine Art "Notwehr der Polizei", die Unfallstellen vor Schaulustigen abschirmen soll.

Keineswegs abgeschirmt ist der Zuschauer vor allgemeiner Hilflosigkeit. Da fällt der Begriff "Unmenschlichkeitspranger". Und Theologe Huber erinnert daran, dass Nächstenliebe selbst im Grundgesetz Eingang findet. Er findet es vertretbar, wenn Personen, die Hilfe unterlassen, auf Videos veröffentlicht werden.

Aber die Gewalt, sie findet sich auch in digitalen Worten. Hassmails sollten umgehend an Polizei und Staatsanwaltschaft weitergeleitet werden, sagt Huber. Genau, gibt ihm Kriminologe Pfeiffer Recht, die Justiz müsse handeln - und vergibt damit Hausaufgaben an jemanden, der gar nicht anwesend ist: Justizminister Heiko Maas.

Künast ist das nicht genug: Ob Menschen angepöbelt werden, entscheide sich nicht erst beim Staatsanwalt. Deshalb sollen soziale Netzwerke bitteschön ihrer Verantwortung nachkommen und Hassparolen sofort löschen. Die Vorsitzende des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz weiß, wovon sie spricht: Sie bekommt regelmäßig Mails und Hass-Kommentare mit beleidigendem Inhalt. Das belastet die Politikerin dermaßen, dass sie vor Kurzem einigen Urhebern - begleitet von einer Reporterin - einen persönlichen Besuch abstattete.

Datenschutzdebatten, weinende Kinder

De Mazière täuscht an und springt Künast zunächst bei: Auch er spricht sich für eine Providerhaftung und darüber hinaus für die Übermittlung von IP-Adressen aus. Doch dann kommt die politische Spitze, die einzige an diesem Abend: Leider würden sich ja Grüne und SPD derzeit noch gegen ein solches Vorgehen aussprechen.

Ansonsten nutzt der Innenminister im Verlauf des Abends mehrmals die Gelegenheit, die Notwendigkeit von Videoüberwachung und Bodycams zu unterstreichen. Eine aufkommende Datenschutzdebatte zwischen dem CDU-Politiker und der Grünen Künast unterbindet Plasberg jedoch durch einen Einspieler: Kinderreporter testen, wie lange es dauert, bis jemand ein weinendes Kind anspricht.

Am Ende gibt es dann noch ein paar kleine Überraschungen. Künast, die Grüne, findet es beunruhigend, dass man der Uniform nicht mit mehr Respekt begegnet und fragt sich, ob der Staat nicht klar genug vermittelt, was er eigentlich sei. Da muss Plasberg die ehemalige Aktivistin umgehend an ihre Jugend erinnern, als Widerstand gegen die Polizei zum guten Ton gehört habe und Künast unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stand: "Bullen klatschen war doch damals ein Hobby, oder?"

Raus aus der Empörungshaltung?

Schließlich verblüfft noch de Mazière mit der Ermahnung, aus der Empörungshaltung herauszukommen, und plädiert für die Kraft individueller Vorbilder. Bereits in der Erziehung können Eltern viel bewirken, etwa, indem sie pädagogische Leitlinien der Schule mittragen, statt sich im Namen der Kinder zu beschweren, wenn diese gemaßregelt würden.

Was eine Gesellschaft sonst noch braucht, erfährt der Zuschauer leider erst am Ende der Sendung, allerdings nicht aus der geladenen Runde. Als die Publikumskommentare vorgelesen werden, kommt eine Stimme zu Wort, die Bildung und Perspektive fordert.

Schade, da hätten die Diskutanten auch früher darauf kommen können. Denn wer über die Verrohung unserer Gesellschaft sprechen will, muss bei der Erziehung anfangen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: