Süddeutsche Zeitung

"Hart aber fair" zu Populismus:Eine "jakobinische Verdammungsorgie" gegen Boris Palmer

Frank Plasberg fragt: Wie viel Populismus verträgt die Politik? Zumindest für die Sendung gilt leider: jede Menge.

Von Jakob Biazza

Und plötzlich ist da dieser Moment scheuer Schönheit - Annäherung vielleicht, womöglich sogar so etwas wie ein beginnender Dialog. Isabel Schayani, Redakteurin beim WDR, erschafft ihn, indem sie zunächst ihre Stimme emotional herunterdimmt. Die Frequenzspitzen flachen ab, alles, was nach Vorwurf klingen könnte, weicht aus dem Ton. Schayani kommentiert für den WDR in den "Tagesthemen", man erlebt hier also auch das Resultat von Sprechtraining und -routine. Aber da ist mehr. Ehrliches Interesse klingt so - zumindest in dem Umfang, in dem ehrliches Interesse in eine Talkshow passt -, und wie um das zu unterstreichen, berichtet die Moderatorin erst mal von Persönlichem.

Sie spricht von ihrer Herkunft (Essen) und den Kumpels, die dort unter Tage gearbeitet haben, und damals - Anfang der Siebziger war das - vielleicht sogar "die Helden meiner Kindheit" waren. Man muss sich diese Truppe dringend als das vorstellen, was erst Jahre später als "Multikulti" durch Sendungen wie "Hart aber fair" getrieben wird: Gastarbeiter also, die zusammen mit vielen Generationen Ruhrpott-Herkunft in Stollen gestiegen sind, um im Dreck zu wühlen. Sie habe an diesen Menschen immer bewundert, sagt Schayani, wie sehr sie sich aufeinander verlassen konnten.

Dann kommt die Frage, die sich direkt an ihren Mitdiskutanten richtet und in der Plasberg-Sendung zum Thema "In Europa, in Deutschland: Wie viel Populismus verträgt die Politik?" wirkt wie eine zarte, fast mütterliche Umarmung: "Was haben Sie erlebt, dass Sie jetzt gegen diese Leute wettern, denen Sie einmal so vertraut haben?"

Könnte Fernsehen doch öfter so sein. Ach was Fernsehen: die Welt.

Bei dem verbal so Umarmten handelt es sich schließlich um Guido Reil, Mitglied im Bundesvorstand der AfD und Kandidat fürs Europaparlament. Reil war für die AfD vor ein paar Jahren der Hauptgewinn: mehr als ein Vierteljahrhundert lang SPD-Mitglied. Gewerkschafter. Einer, der sich eingemischt hat, dem die Leute zuhörten. Bis 700 weitere Migranten in seinem Viertel (ebenfalls in Essen) untergebracht werden sollten, und plötzlich niemand mehr Reil zuhörte, zumindest in der SPD, als er seine Ängste deswegen äußerte.

Also rechnete er mit den einstigen Genossen ab: Die Parteielite interessiere sich nicht mehr "für die einfachen Mitglieder", sagte er kurz nach seinem Wechsel. Sie ekele sich vor der Basis. Also lieber: eine AfD-Karriere, die viele sicher als klassisch bezeichnen würden. Reil leugnet inzwischen öffentlich den Einfluss des Menschen auf den Klimawandel. Über das Europaparlament, für das er kandidiert, sagte er beim Wahlkampfauftakt im April: "Dieses Parlament hat fertig. Die sind so überflüssig wie ein Pickel am Arsch."

In der Sendung sagt er aber auch: "Es ist ein riesiges Problem, dass das Parlament die Bevölkerung nicht widerspiegelt." Wer sich die Akademikerquoten in den Vertretungen ganz Europas ansieht, muss sagen: Es würde sich bei diesem Punkt vielleicht lohnen, Menschen wie Reil zuzuhören. "Unser Kumpel für Europa" steht auf seinen Wahl-Flyern.

Und dieser kumpelige Reil wird nun also von Schayanis Frage derart auf dem falschen Fuß erwischt, dass er für einen kurzen Moment stockt. Er scheint zu grübeln. Womöglich, man kann in die Menschen ja nicht reinschauen, spürt er wirklich dem nach, was er damals gefühlt hat. Und warum dieses Gefühl kaputtgegangen ist. Seine Augen jedenfalls sehen in diesem Moment so aus, als würde sie sich gleich mit Wasser füllen.

Das ist zwar, man kann es in ein paar Reportagen nachlesen, in denen Reil vorkommt, ein Effekt seiner Brille, die dicken Gläsern zoomen den Blick extrem auf. Aber trotzdem: Da ist eine Art Verbindung zwischen den beiden, und zumindest die WDR-Frau wird diese Verbindung bis zum Ende nicht ganz abreißen lassen.

Menschen, die aneinander interessiert direkt miteinander kommunizieren: Für eine politische Talkshow ist das viel. Und doch auch nichts.

Denn der Moment geht vorbei und vor und nach ihm herrscht das klassische Polittalk-Dilemma: Man redet dem Anschein nach zwar mit-, tatsächlich aber doch eher übereinander. Will also vordergründig etwas wissen, tatsächlich aber doch noch lieber bestätigt bekommen, was man vorher schon wusste.

Das ist in diesem Fall leicht, denn die Runde ist auf diese Logik gecastet, also ist auch Boris Palmer da. Von dem Grünen-Politiker weiß jeder mit einem Zeitungsabo, einem Fernseher oder auch nur einem Twitter-Account, dass er zwar hochintelligent, rhetorisch quasi-begnadet und politisch höchst erfolgreich ist. Aber auch leicht erregbar und das immer öfter auf Feldern, bei denen nicht nur seine Parteikollegen sich fragen, ob er wirklich nichts Besseres zu tun hat. Einmal hat er einen, Zitat: "linken Studenten", der ihn, noch ein Zitat: "attackiert" habe, nachts mit seinem Dienstausweis zur Personenkontrolle stellen wollen. Der Student gab später an, Palmer habe ihn dafür um die Buden eines Jahrmarkts gejagt.

Auch Palmer hat eine steile Karriere hinter sich - vom politischen Wunder- zum, nun ja, Schmuddelkind. Noch als Student wollte er seinen Kommilitonen das Autofahren ausreden. Als die einmal zu oft konterten, es gäbe ja keinen Bus, dachte er sich ein Nachtbussystem aus. Die Stadt führte es wirklich ein. Es existiert bis heute. Palmer war gerade mal 28, als er es in den Landtag schaffte. Mit 34 wurde er OB in Tübingen. Alles hätten sie ihm zugetraut in der Partei. Sogar die Nachfolge von Winfried Kretschmann als Ministerpräsident von Baden-Württemberg.

Aber dann wurde der Umwelt-Palmer zum Flüchtlings-Palmer und damit zum grünsten Vertreter eines gegen Merkel gerichteten "Wir schaffen das nicht". Man beobachte "sein Abdriften in den Rechtspopulismus" mit "großem Befremden", sagen hochrangige Parteikollegen. Boris Palmer beteilige sich "an einer Polarisierung und Brutalisierung der öffentlichen Debatte und an einer Rechtsverschiebung des politischen Diskurses".

Jüngst hat Palmer eine Anzeige der Deutschen Bahn entdeckt. Sie zeigt relativ berühmte Personen wie den Fernsehkoch Nelson Müller oder den ehemaligen Formel-1-Fahrer Nico Rosberg (die Palmer beide nicht kannte). Insgesamt sechs Menschen sind zu sehen - nur einer davon hellhäutig. Also tippte Palmer, mal wieder, eilig ins Internet: "Der Shitstorm wird nicht vermeidbar sein. Und dennoch: Ich finde es nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien die 'Deutsche Bahn' die Personen auf dieser Eingangsseite ausgewählt hat. Welche Gesellschaft soll das abbilden?"

Der Shitstorm war nicht vermeidbar. Claudia Roth zum Beispiel meinte: "So leid es mir tut: Das ist eindeutig rassistisch."

Palmer hat sich inzwischen eigentlich für seinen Post entschuldigt. Eigentlich. Denn Sendungen wie "Hart aber fair" haben für einen, der sehr gerne (und mit vielem ja auch wirklich) recht hat, eben eine fatale Dynamik. Also bestätigt er doch lieber wieder, was alle über ihn zu wissen glauben:

"Tatsache ist: 75 Prozent der Menschen in unserem Land haben keinen Migrationshintergrund - und hier sind sechs Menschen abgebildet, die alle einen Migrationshintergund haben", sagt er. "Das ist eine Differenz, die man thematisieren kann", sagt er auch noch. Dann spricht er von einer "jakobinischen Verdammungsorgie", und zwar "als Betroffener". Er betont die Gefahren der Identitätspolitik, und bescheinigt seiner eigenen Partei, mit ebendieser Identitätspolitik die AfD stärker zu machen. Dann beruhigt er sich wieder etwas.

Der Rest ist einigermaßen inspirierter Talkshow-Standard: Der österreichische Politikwissenschaftler Peter Filzmaier fragt Palmer nach dessen Ausführungen, "ob er nicht selbst denkt, schon schlauere Momente gehabt zu haben als in dieser Argumentation". Palmer wird das eher dementieren.

Ralf Schuler, Chefkorrespondent im Parlamentsbüro der Bild-Zeitung und Autor des Buches "Lasst uns Populisten sein. Zehn Thesen für eine neue Streitkultur", sagt, der Populismus sei immer auch Zeichen eines Mangels in der Politik. Es könne also "schon mal der Gedanke aufkommen, dass das Produkt schuld ist, wenn die Kunden weglaufen". Und: "Populismus gehört in die Mitte der Gesellschaft - nicht an die Ränder." Palmer wird das eher bestätigen.

Dazwischen passt die eigentlich wirklich spannende Frage, was denn so ein Populist nun eigentlich sei, leider nur sehr kurz. Das sehr grobe Ergebnis lautet: Bei Boris Palmer ist es wohl eher eine Frage der Definition. Bei Guido Reil wohl eher nicht. Und den wegen einer Erkältung fehlenden Juso-Chef Kevin Kühnert muss man wohl weiter beobachten - seine jüngsten Äußerungen zur Vergesellschaftung großer Konzerne lassen eine Karriere in dieser Richtung zumindest vermuten.

Und plötzlich ist da tatsächlich noch so ein Moment scheuer Schönheit - eine weitere Annäherung vielleicht, womöglich sogar so etwas wie ein fortgesetzter Dialog: AfD-Mann Guido Reil sagt, dass er mit der WDR-Frau Isabel Schayani nach der Sendung weiterreden wolle - zwar nur über Essen, aber Himmel, das ist doch auch schon was. Palmer hat dazu übrigens nichts zu sagen, und auch das überrascht ja durchaus.

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