Süddeutsche Zeitung

"Maybrit Illner" zum Anschlag in Hanau:Tatsächlich dazugelernt

Während die einen das Problem des strukturellen Rassismus endlich bei der Wurzel packen wollen, verweisen andere auf die Lehren aus vergangenen rechten Terroranschlägen - eine Haltung, die nur wenige beruhigen dürfte.

Nachtkritik von Quentin Lichtblau

Das erste Wort an diesem Abend - und hier macht die Redaktion von "Maybrit Illner" sehr viel richtig - hat nicht ein Berliner Politiker, sondern Kemal Kocak, Betreiber des Kiosks in der Hanauer Weststadt, in dem in der Nacht zum Donnerstag die ersten Schüsse gefallen waren. Kocak kannte viele der Opfer, eines war sein Neffe. Auch sonst merkt man dieser Ausgabe von Maybrit Illner mit dem Thema "Anschlag in Hanau: Rechter Terror außer Kontrolle?" an, dass man dazugelernt hat, dass offensichtlich eine hohe Sensibilität gegenüber dem herrscht, was in der Vergangenheit bei ähnlichen Sendungen gründlich schiefgelaufen ist.

Mit Kübra Gümüşay sitzt zum Beispiel eine Person in der Runde, die von Rassismus und Drohungen nicht nur aus theoretisch-abstrakter, sondern aus persönlicher Betroffenheit erzählen kann. Gut wäre es außerdem gewesen, wenn auch ein Vertreter der kurdisch-deutschen Gemeinschaft zugegen gewesen wäre. Aber: Gott sei Dank kommt Personal der AfD an diesem Abend nicht zu Wort, weder in der Runde noch in Einspielern.

Doch inwiefern lassen sich, so kurz nach dem rechtsextremen Terroranschlag, bereits politische Konsequenzen diskutieren, in einer Phase, in der die Ermittlungen zwar den mutmaßlichen Täter schon klar benennen können, aber noch nicht dessen Radikalisierungsverlauf oder Verbindungen ins rechte Milieu? Andererseits handelt es sich nach dem Mord an Walter Lübcke und dem Anschlag von Halle bereits um den dritten Fall in gerade einmal neun Monaten. Der Ruf nach ausgeruhten Analysen -angesichts einer nie gekannten Dimension rechtsextremer Gewalt - dürfte gerade diejenigen, die sich nach den Anschlägen selbst bedroht fühlen, kaum zufriedenstellen. Sie wollen konkrete Pläne hören.

Laschet sieht Fortschritte seit dem NSU

Dass sie ihre Gäste mit Lavierereien nicht davonkommen lassen würde, macht Illner dann auch gleich in ihren eröffnenden Worten deutlich: "Im Juni saßen wir hier und sprachen über Lübcke, im Oktober über Halle und heute müssen wir schon wieder reden". Angesprochen auf diese Kontinuität der rechtsextremen Gewalt, die seit 1990 mehr als 200 Menschen in Deutschland das Leben gekostet hat, spricht der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet etwas ungelenk davon, dass die Gesellschaft nun "noch wachgerüttelter" sein müsse. Man habe seit dem NSU dazugelernt, habe die Tat von Anfang an klar benannt und nicht, wie im Fall des NSU, zuerst die Familien der Opfer als mögliche Drogen-Kriminelle ins Visier genommen. Das mag ein nicht unwichtiger Fortschritt sein. Aber reicht er aus, damit sich potenzielle Opfer der Rechtsextremen sicherer fühlen?

Die anderen in der Runde sind in ihrer Analyse durchaus kritischer. Die Journalistin Gümüşay sagt, dass Warnungen nicht ernst genommen worden seien, dass sie der Anschlag natürlich erschüttere, aber leider eben auch nicht verwundert habe. Grünen-Politikerin Claudia Roth und Janine Wissler von den hessischen Linken fordern Konsequenz, glaubhafte Maßnahmen, damit Deutschland zu einem Land werde, "in dem die Menschen keine Angst haben müssen", wie es Roth ausdrückt.

Nach der konfrontativen Aussage von Gümüşay, die in ihrer Argumentation stets das Strukturelle am deutschen Rassismus-Problem betont, reichen die Redebeiträge der beiden Politikerinnen hier trotz erkennbar guten Willens nicht unbedingt über das hinaus, was Illner als "Sonntagsrede an einem Wochentag" bezeichnet. Konkreter, weil eben nicht ganz dem Politik-Sprech verhaftet, wird es hier mit dem Extremismus-Forscher Matthias Quent. Der zerlegt zunächst die in den vergangenen 24 Stunden oft genannte These des psychisch verwirrten Einzeltäters: Es handele sich zwar höchstwahrscheinlich um einen allein handelnden Täter, was aber keinesfalls bedeute, dass dieser sich auf eine vollkommen individuelle, isolierte Art radikalisiert habe. "Rassismus wird gesellschaftlich gemacht, niemand wird als Rassist geboren", sagt er.

Verschwörungsdenken in seriösen Zeitungen

Der Wahn im Denken des Attentäters sei viel mehr ein kollektiver, gefüttert von Hunderten verschwörungstheoretischen Videos und Kanälen im Netz - die bedauernswerterweise aus einem falschen Verständnis von Meinungspluralität heraus mittlerweile auch in etablierteren Strukturen stattfänden. Er nennt hier die Zeitung Welt, die einen Kolumnisten beschäftigt, der erst vor wenigen Tagen in einem Text die Theorie des sogenannten Kulturmarxismus bemühte - eine Verschwörungsdenke, der auch der norwegische Attentäter Anders Behring Breivik anhing. Quent fasst deren Grundgedanken als "neue antisemitische Weltverschwörung" zusammen und fragt sich, was dieser in einer seriösen Zeitung zu suchen habe.

Gümüşay springt ihm hier bei und spricht von Rassismus als "Norm in Deutschland". Sie fühle sich oft wie "beim Topfschlagen", das Problem, also wohl der Topf namens struktureller Rassismus, sei zwar offen ersichtlich, die deutsche Gesellschaft schlage aber eben nach wie vor und zu oft daneben. Auch Linken-Politikerin Wissler spricht von einer Tradition des Kleinredens, des Verschweigens - auch und gerade in den Sicherheitsbehörden, etwa im Fall rechtsextremer Polizisten. Das will Laschet so nicht stehen lassen, die Polizei sei "zum überwiegenden Teil engagiert, dass so etwas nicht stattfindet". Dann verwendet er einen Begriff, den man sonst eher von Change-Managern in der Geschäftswelt hört: Er wünscht sich eine bessere "Fehlerkultur" bei den Behörden, und man ist sich nicht so ganz sicher, ob er rechtsextreme Netzwerke innerhalb der Sicherheitsbehörden für nicht viel mehr als ein Fehlerchen hält, das sich mit ein wenig Prozessoptimierung beseitigen ließe.

Radikalisierung in geschlossenen Communitys

Wenig später nennt er den Rechtsterrorismus allerdings wieder die größte Bedrohung unserer Gesellschaft und man meint, seine Strategie dieses Abends, möglicherweise auch seiner Kandidatur zum CDU-Vorsitz, erkannt zu haben: im Allgemeinen durchaus konkret sein, im Konkreten dann aber wieder möglichst allgemein. Und immer viel dazugelernt haben. Ein ähnliches Spiel spielt er, als die Runde auf die Dynamiken des Hasses im Netz zu sprechen kommt. Quent erläutert hier die mittlerweile von Riesen wie Facebook auf kleinere, geschlossene Communitys ausgewichene rechte Szene, die dort zwar weniger sichtbar sei, aber eben auch zu einer schnelleren Radikalisierung neige.

Gümüşay spricht von der fortwirkenden Fehlausrichtung der Algorithmen sozialer Medien, die polarisierende, einseitige Inhalte mit Reichweite belohnt: eine Dynamik, die sich auch auf politische Talkshows übertragen habe, in denen man bewusst Teilnehmer mit möglichst gegensätzlichen Positionen aufeinanderprallen lasse - und dabei eben auch zu oft auf Rechte setze, die an einem ausgewogenen Gespräch nicht im Ansatz Interesse haben. Laschet dazu: "Ich glaube nicht, dass die harte Debatte das Problem ist." Streit sei ja an sich nicht immer schlecht, viele Bürger blickten schließlich in wohliger Erinnerung zurück zu Politikern wie Strauß und Wehner, die hätten sich ja auch immer ganz herrlich gestritten und man wolle ja schließlich keine "Diskussionsräume verkürzen".

Er erkennt dann allerdings an, dass auch Sprache ein Problem sein kann, es unstrittig sei, dass man Rechtsextreme nicht bekämpfe, wenn man deren Begriffe übernehme, woraufhin ihn Wissler an die Aussagen seine Parteikollegen Horst Seehofer erinnert, der Migration einst "die Mutter aller Probleme" genannt hatte. "2015 war ein aufwühlendes Jahr", meint Laschet daraufhin, man habe - da ist es wieder - "dazugelernt", ein Verb, das es spätestens jetzt zum meistgenutzten des Abends gebracht hat. Ob aber der Verweis auf das stetige "Dazulernen" all jene beruhigt, die seit Jahrzehnten aufgrund des rechten Terrors in Sorge um ihr Wohlbefinden leben müssen - unwahrscheinlich.

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