Günther Jauch zum Thema Sitzenbleiben:Talkshow als Schule des Lebens

Günther Jauch zum Thema Sitzenbleiben: Prof. Dr. Richard David Precht (Philosoph und Publizist), Melda Akbas (Studentin und Autorin), Ursula Sarrazin (ehemalige Grundschullehrerin) und Armin Laschet (stellvertretender Parteivorsitzender, CDU) bei Günther Jauch (von links)

Prof. Dr. Richard David Precht (Philosoph und Publizist), Melda Akbas (Studentin und Autorin), Ursula Sarrazin (ehemalige Grundschullehrerin) und Armin Laschet (stellvertretender Parteivorsitzender, CDU) bei Günther Jauch (von links)

(Foto: Imago Stock&People)

Woran krankt das deutsche Bildungssystem? Diese Frage wollte Günther Jauch mit Philosoph und Bildungskritiker Richard David Precht und der Ex-Lehrerin Ursula Sarrazin analysieren. Die Talkshow wurde zum Sinnbild der Schulkrise.

Eine TV-Kritik von Johanna Bruckner

Legt man die gängigen Kritikpunkte zugrunde, sieht es in vielen deutschen Klassenzimmern wie folgt aus. Die Schüler: eine heterogene Masse. Vom Hochbegabten, der dem Lernstoff voraus und seinem Lehrer überlegen ist, über die mittelmäßige Schülerin, die für die Schule anstatt fürs Leben lernt, bis hin zum Klassenclown, der dem Unterricht mit Desinteresse und einem Dauergrinsen im Gesicht folgt, ist alles dabei. Dazu kommt ein Lehrer, der latent überfordert ist.

Auch bei Günther Jauch wähnte sich der Zuschauer am Sonntagabend streckenweise in ein solches Klassenzimmer versetzt. Um die Frage "Notendruck, Sitzenbleiben - weg mit der alten Schule?", zu beantworten, waren Philosoph und Bildungskritiker Richard David Precht, die Ex-Lehrerin Ursula Sarrazin und Armin Laschet, Vorsitzender der CDU in Nordrhein-Westfalen, geladen.

Der Runde gelang es dann tatsächlich, die Frage nach den Schwachpunkten des deutschen Schulsystems zu beantworten. Jauch und seine Gäste wurden zum Sinnbild der Schulkrise.

Der Lehrer

Günther Jauch wollte offenkundig vor allem drei Dinge: Möglichst viele Aspekte anreißen (siehe "Der behandelte Stoff"), alle Einspieler unterbringen (auch wenn er dafür seinen Gästen das Wort abschneiden musste) - und möglichst schnell durch den Talkabend kommen. Der Moderator schien fast erleichtert, als er an Tagesthemen-Moderator und Sitzenbleiber (für diese Frage war dann doch noch Zeit) Tom Buhrow übergab.

Die Schüler

Der Hochmotivierte

Seit seinem Buch zum Thema ("Anna, die Schule und der liebe Gott: Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern"), gilt Richard David Precht als Bildungskritiker Nummer eins. Diesem Ruf wurde er bei Jauch gerecht - der Philosoph war mit Abstand am besten drin im Thema. Er durfte gleich zu Beginn aufsagen, worum es ihm geht.

Im internationalen Vergleich gehörten die deutschen Schulen zu den sozial ungerechtesten. Und: "Das Bildungsniveau ist in Deutschland viel zu gering." Ergo: Das alte, preußische System muss weg und Schule neu gedacht werden - spätestens von der sechsten Klasse an. Dann nämlich gebe es Fächer wie Mathematik, die sich nicht für den Gruppenunterricht eigneten. Fächer müssten "vom Sinnhorizont her" gelehrt und gelernt werden: So könnte ein Projekt zum Thema Klimawandel die Fächer Chemie und Physik ersetzen.

Am Ende fiel der Klassenprimus vor allem der Konzeption der Sendung und der Gästeauswahl zum Opfer. Denn während er sich mit dem zweiten Teil der abendlichen Frage (Weg mit der alten Schule?) abmühte und Visionen einer ganz neuen Schule zeichnete, konnten oder wollten sich seine Mitdiskutanten nicht vom tradierten System lösen. Precht wurde das Schicksal manches Hochbegabten zuteil: Sein Potenzial ging unter.

Die Bemühte

Ursula Sarrazin, ehemalige Grundschullehrerin und Frau von Islamkritiker Thilo Sarrazin, war wohl als Konterpart zu Precht geladen. So recht vermochte sie diese Rolle aber nicht erfüllen. Zwar verneinte sie zu Beginn die Frage von Moderator Jauch, ob denn das deutsche Schulsystem eine Katastrophe sei. Doch im Verlauf offenbarte sie - eher unfreiwillig - die Schwächen eben dieses Systems.

Es gebe die Vorgabe an Lehrer, dass bei Klassenarbeiten maximal 30 Prozent der Schüler mit "mangelhaft" oder "ungenügend" bewertet werden dürften, erklärte Sarrazin. Um diese Quote in leistungsschwachen Klassen nicht zu überschreiten, würde das Niveau von Klassenarbeiten notfalls gesenkt. Die Folgen: Noten sind faktisch nicht mehr vergleichbar - und leistungsstarke Schüler haben das Nachsehen. "So lange es diese Vorgabe gibt, kann man nicht jeden Schüler individuell fordern und fördern", sagte Sarrazin.

Von einem Brandherd zum nächsten

Den Ideen Prechts schien die frühere Grundschullehrerin nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberzustehen. Allerdings war sie wohl zu lange Teil des etablierten Schulsystems, um sich von pädagogischen Mitteln wie Noten und Sitzenbleiben so einfach verabschieden zu können. "Undemokratisch" sei Prechts Ansatz, Schülern ein Persönlichkeitszeugnis statt eines Leistungszeugnisses auszustellen. Es brauche objektive Maßstäbe, "denn sonst artet Schule in Willkür aus".

Der Klassenclown

Am wenigsten mit dem Thema des Abends hatte sich wohl CDU-Politiker Laschet beschäftigt. Das versuchte er mit eigenen Erfahrungsberichten wettzumachen. Nur Unsinn und Fußball habe er seinerzeit im Kopf gehabt, deshalb sei er sitzengeblieben. Die Ehrenrunde habe ihm letztlich aber nicht geschadet, sondern sei eine Lektion fürs Leben nach der Schule gewesen.

Überhaupt sei das hiesige Bildungssystem nicht so schlecht wie sein Ruf im eigenen Land, so Laschet. Das Ausland schaue in der Krise mit neidvollem Blick auf Deutschland: "Wie machen die Deutschen das, dass die Jugendarbeitslosigkeit so gering ist?" Prechts Einwurf, die geringe Jugendarbeitslosigkeit habe nichts mit der Qualität der Schulen zu tun, nahm der CDU-Mann gelassen hin. Ihm ging es augenscheinlich mehr darum, ein Podium für parteipolitische Position zu haben, als mit Argumenten zu punkten.

Die Unterrichtsmaterialien

Die Einspieler waren durchaus informativ - am Ende aber verschenkt. So lieferte ein Film die Fakten zum Streitthema Sitzenbleiben: Mehr als 150.000 Schüler müssen hierzulande jedes Jahr eine Ehrenrunde drehen. 21 Prozent der 15-Jährigen - also jeder Fünfte war schon mal betroffen. Deutschland gehört mit diesen Werten zu den unrühmlichen Spitzenreitern in Europa.

Welche Schicksale aber hinter diesen Zahlen stecken, das kam kaum zur Sprache. Mit CDU-Politiker Laschet und dem Schüler Gordian Loomanns waren im Studio zwar zwei Sitzenbleiber anwesend - doch beide zeigten sich vom Sinn und Zweck dieser umstrittenen pädagogischen Maßnahme im Nachhinein überzeugt. So wohlwollend wird wohl nicht jeder Betroffene auf seine Ehrenrunde zurückblicken. Doch um Perspektivenvielfalt ging es Jauch beim Thema Sitzenbleiben auch nicht - das wurde spätestens bei folgender Frage an Gordian deutlich: "Hast du dich als demotivierter Loser empfunden?"

Zwei weitere Einspieler zeigten, dass das von Precht geforderte Umdenken in der Schulpolitik mancherorts schon Realität ist. Jahrgangsübergreifendes Lernen, Projektunterricht, kein Sitzenbleiben und Noten erst ab der Oberstufe - an zwei vorgestellten Schulen findet das bereits erfolgreich statt. An dieser Stelle versäumte es Jauch, dem anwesenden Schulleiter der Berliner Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule die naheliegenden Fragen zu stellen: Wie wurde auf das neue Schulmodell umgestellt - einfach von einem Schuljahr aufs nächste? Wie wurden Eltern und Schüler von dem neuen Konzept überzeugt? Welche Probleme gab es?

Der behandelte Stoff

War vor allem eines: zu ambitioniert. Das Thema Schulpolitik eignet sich nicht als Gegenstand für eine 60-minütige Sendung. Zwar hatte der Moderator zwei konkrete Kritikpunkte in den Titel des Abends genommen. Doch am Ende hastete Jauch von einem Bildungsbrandherd zum nächsten: Sitzenbleiben, Noten/Kopfnoten/keine Noten, überforderte/ungerechte Lehrer, faule Schüler, Finanzierung. Nach einer Stunde Themenhopping fühlte man sich an die Worte von Precht erinnert: Lediglich zwei bis drei Prozent des Schulwissens hätten die meisten Menschen zehn Jahre nach dem Schulabgang noch präsent, dozierte der Bildungskritiker. Den Jauch-Talk dürfte mancher Zuschauer schon nach den Tagesthemen vergessen haben.

(Kopf-) Note Ausreichend. Oder: Sie haben sich bemüht.

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