Siebzig Zeilen für siebzig Lebensjahre, da ist nicht viel Platz - anderseits hat Günter Wallraff einen "gewaltigen Horror" vor dem 1. Oktober, seinem 70. Geburtstag. Bei solchen Gelegenheiten wird gewöhnlich viel Lobendes und auch manches Bittere geschrieben, aber das ist nicht mal das Schlimmste. Wallraff denkt angesichts größerer Gesellschaften sofort an Flucht.
Als er fünfzig Jahre alt wurde und sein Verlag ein großes Fest plante, machte er sich dünne und feierte mit Vietnamesen, die dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen entkommen waren. Er sagte ihnen nicht, dass er Geburtstag hatte. Zum Sechzigsten weihte er in Afghanistan eine von ihm gestiftete Mädchenschule ein. Und diesmal? Vielleicht feiert er mit seiner Familie, fünf Töchtern und ein paar Freunden, oder er haut doch wieder ab, wenn Montagmorgen die Sonne scheint. Die ihn mögen, haben gelernt, mit seinen Macken zu leben.
Eigentlich muss der Sohn eines Fordarbeiters niemandem mehr was beweisen. Alle und alles hat er schon entlarvt - die Reichen und die Einflussreichen, Militärs und Manager. Wallraff war der Türke "Ali" und der "Hans Esser" bei Bild, er hat unmenschliche Arbeitsbedingungen an den Hochöfen und am Fließband öffentlich gemacht und nimmermüde die Mächtigen vorgeführt. Sie kennen ihn in Japan, Mexiko und China und es gibt Länder, da ist "wallraffen" ein richtig gutes Verb.
Immer weiter
Kaum jemand im Journalismus und im Literaturbetrieb hat so viel bewegt wie Wallraff. Er führt ein geordnet ungeordnetes Dasein, das eingeteilt ist in Exzess und Abstinenz. Lebensführung auf mittlerer Linie - das ist nichts für ihn. Ein Fanatiker des Fleißes, der auch das Nichtstun schätzt. Er ist Ausdauersportler (Marathon-Bestzeit 2:50 Minuten) und an einem seiner Geburtstage ist er morgens aufgestanden und hundert Kilometer gelaufen. Er macht Krafttraining, fährt, manchmal begleitet von Delfinen, im Hochsee-Kajak auf dem Atlantik.
Seit er Erfolg hat, begleiten ihn die Feinde wie Schatten und machen sich von ihm das Bild, das ihnen passt. Sie werfen dem Schriftsteller Wallraff vor, dass er angeblich nicht schreiben kann, dem Aufklärer, dass er angeblich vernebelt, dem Kümmerer, dass er angeblich mit der Stasi gekungelt hat. Die Staatsanwaltschaft Köln ermittelt in diesen Tagen gegen Wallraff in einer vergleichsweisen provinziellen Affäre, an der eigentlich nur bemerkenswert ist, dass der Vermögensmillionär immer noch nicht über ein ordentlich geführtes Büro verfügt und immer noch seltsam lax ist beim Umgang mit behördlichen Regeln. Wallraffs Glaubwürdigkeit stehe auf dem Spiel, schrieb ein Kritiker. Kleiner geht es nicht.
Wallraffs Leben folgt dem Schema These und Antithese. Er ist Agnostiker und glaubt an die ewige Ruhe. Deshalb will er sich "hier und heute noch einmischen", so lange es eben geht.