Gespräch: Doku über Kirsten Heisig:"Die tut sich was an"

Für Jugendliche, die sie verurteilt hatte, war sie der Teufel. Güner Balci hat eine Doku über Kirsten Heisig gedreht. Ein Gespräch über Aggression, Gewalt und Einsamkeit.

Lena Jakat

"Ein leuchtendes Blätterdach, Sonne, Waldgeräusche: Hier, in einem Waldstück vor Berlin, wurde die Jugendrichterin Kirsten Heisig am 3. Juli 2010 tot aufgefunden. Wenige Wochen später beginnt die Fernsehjournalistin Güner Balci gemeinsam mit Nicola Graef zu recherchieren - und sich auf die Suche nach dem Menschen hinter der streitbaren Juristin zu begeben. Das Ergebnis ist die WDR-Dokumentation Tod einer Richterin.

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"Nur noch Haut und Knochen" - ein ARD-Film über die Jugendrichterin Kirsten Heisig.

(Foto: WDR/ddp)

Der Film beginnt dort, wo Kirsten Heisigs Leben endete: im Tegeler Forst. Balci kannte Heisig, und Balci kennt Neukölln. Hier hat Heisig gearbeitet, hier wollte sie Jugendstrafverfahren reformieren, der Berliner Bezirk gab ihrem Modell seinen Namen. Balci, Tochter türkischer Gastarbeiter, ist hier geboren und aufgewachsen, hier war sie in der Jugendarbeit aktiv. Heute lebt die 36-Jährige in Berlin-Mitte - beim Interview an ihrem Küchentisch sind auch Hund, Katze und ihr kleiner Sohn mit dabei.

sueddeutsche.de: Wie haben Sie Kirsten Heisig kennengelernt?

Güner Balci: Es war im Winter und sie trug offene Sommerschuhe, obwohl es richtig kalt war. So, als ob sie sich einfach irgendwie angezogen hätte, ohne zu wissen, was sie macht. Ich hatte vorher schon viel über sie gelesen und war erstaunt, dass das gar nicht die taffe Frau war, die ich mir vorgestellt hatte. Sie wirkte auf mich eher unsicher. Erst in der Recherche für den Film habe ich erfahren, dass das in der Phase nach ihrem ersten Selbstmordversuch war.

sueddeutsche.de: Haben Sie sie denn später anders erlebt?

Balci: Kirsten Heisig war immer sehr adrett und sehr kontrolliert. Ich fand sie immer unnahbar. Man merkt ja, wenn jemand nicht nur zurückhaltend ist, sondern die Distanz möchte. Und dieses traurige Gesicht: Sie war ja sehr erfolgreich, aber sie sah nie richtig glücklich aus. Wenn andere erzählen, dass sie oft fröhlich war - das habe ich auch gesehen, aber abgenommen habe ich es ihr nicht.

sueddeutsche.de: Die Menschen, die im Film von ihr erzählen, sind vor allem Kollegen. Angehörige, richtige Freunde kommen nicht zu Wort.

Balci: Ich hätte mir sehr gewünscht, einen Menschen zu treffen, der Kisten Heisig nahestand. Für die Familie war es zu heftig, dass wir einen Film über sie gemacht haben - über jemanden, der gerade ein frisches Grab bekommen hat. Da kamen wir nicht weiter, es war wie eine Mauer. Und ich glaube, auch sonst waren da keine engen Vertrauten, das blieb alles an der Oberfläche. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass sie ganz schön einsam ist. Wir haben dann alles durchrecherchiert und niemanden gefunden. Ich glaube, sie hatte gar keine Freunde.

sueddeutsche.de: Erinnern Sie sich an Ihre letzte Begegnung?

Balci: Es war einen Monat vor ihrem Tod. Ich war total geschockt, weil sie mich umarmt hat. Das hätte ich nie von ihr gedacht. Sie hatte gehört, dass ich Mutter geworden bin. Als sie mich umarmte, waren da nur Haut und Knochen, eine verschwindend geringe Frau.

sueddeutsche.de: An einem Montagmorgen kam sie nicht zum Dienst, vier Tage lang suchte die Polizei nach ihr.

Balci: Als sie verschwunden war, dachte ich: Die tut sich was an. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass Jugendliche sich an ihr rächen wollten oder so.

"Wer ausziehen will, muss heiraten"

sueddeutsche.de: Die Gerüchte über ein Fremdverschulden sind nie völlig verstummt, auch nicht, nachdem ihr Obduktionsbericht freigegeben wurde. Warum?

Balci: Es ist die Tatsache, dass jemand, der so auf dem Höhepunkt ist, so im Mittelpunkt steht, sich einfach das Leben nimmt. Wenn die Leute das an sich ranlassen würden, müssten sie sich selbst fragen, wie weit es bei ihnen gehen könnte.

Die Menschen wollen außerdem ihre Phantasie spielen lassen, sie wollen eine richtige Geschichte. Ich kenne aber das Milieu zu gut und weiß, dass schon einiges passieren muss, bis sich Jugendliche dort dazu entschließen, jemanden planmäßig umzubringen. Die hätten sich sofort verraten.

sueddeutsche.de: Kirsten Heisig hat Jugendliche wie Gibran verurteilt, der im Film sagt: "Wir haben sie gehasst. Sie war schlimmer als der Teufel." Sie haben in Neukölln zwölf Jahre lang mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Kennen Sie Karrieren wie Gibrans?

Balci: Ja. Kisten Heisig konnte auch mich schocken. Ihre herben Geschichten von Massenvergewaltigungen und extrem gewaltbereiten Zwölfjährigen kannte ich zum Glück nicht aus dem persönlichen Kontakt mit Jugendlichen. Die bleiben ja auch selten länger in einem Jugendklub, landen eher bei einer Richterin. Aber das Milieu ist mir total vertraut. Mit Männern, die heute große Zuhälter und Gangstergrößen sind, hat man früher zusammen auf dem Spielplatz rumgehangen. Ich kenne die Leute, die Familien, die Geschichten.

sueddeutsche.de: Sie haben mit diesen Kindern Filme gedreht, geschrieben, ein Kunstprojekt gemacht - mitten in Neukölln, wo Sie selbst geboren und aufgewachsen sind.

Balci: Die Kinder dort leben ungeplant in den Tag hinein, von ihren Familien wird ihnen gar nichts geboten. Es hat mir Freude bereitet, ihnen etwas Schönes anzubieten. Etwas Kreatives, viel, viel Kunst - eine Welt, die ihnen sonst verschlossen bleibt.

sueddeutsche.de: Sie haben vor allem mit Mädchen gearbeitet. Warum?

Balci: Ich hatte keine Lust mehr auf diese gewaltbereiten Jungs. Die haben ein extremes Aggressionspotential. Das ist nichts, wovor ich Angst habe. Ich kann mit denen ziemlich gut umgehen. Aber es war anstrengend, immer bereit zu sein, dazwischenzuspringen.

sueddeutsche.de: Warum sind Sie weggezogen, aus Neukölln, Ihrer Heimat?

Balci: Ich wollte das alles nicht mehr sehen. Ich kann nicht einfach dort in einem schicken Café sitzen. Ich sehe die Probleme, die Menschen, die hochgestylten Tussis und die Macho-Jungs, die nur dieses eine Bild vorgesetzt kriegen und es reproduzieren. Dieses hohle, langweilige Leben: Fernsehen, Konsum und sonst passiert nichts. Die Ladenstruktur in Neukölln, das sind 2,99-Euro-Schuhgeschäfte, Nagelstudios und extrem viele Hochzeitsläden.

sueddeutsche.de: Hochzeitsläden?

Balci: Der Plan für Mädchen ist: Wenn ich ausziehen will, muss ich heiraten. Also sehe ich zu, dass ich schnell einen Typen kennenlerne, den ich toll finde und dann kaufe ich mir eine weiße Ledercouch. Diese Perspektivlosigkeit, dieses Traurige, das sie an sich haben, das können sich jetzt mal andere angucken und da leben. Auch wenn es mich ärgert, dass blöde Studenten dort das Doppelte für eine Wohnung zahlen wie eine arabische Großfamilie: Ich finde es gut, wenn Leute hinziehen, weil sie denken, Neukölln wird das neue Soho. Aber ich glaube, dass sie sich da geschnitten haben. Weil genauso, wie dort Studenten hinziehen, schießen seltsame Moscheevereine aus dem Boden.

sueddeutsche.de: Sie wollen nicht mehr nach Neukölln zurück?

Balci: Ich sage es ganz offen: Es gibt keine einzige Grundschule, auf die ich meinen Sohn schicken würde. Die Lehrer sagen "Wir sind hier eine Resteschule" und würden ihre eigenen Kinder nicht auf diese Schulen bringen. Eigentlich bräuchte man dort Ganztagsschulen mit dem Anspruch von Privatschulen. Gäbe es die, wäre das auch für mich ein Grund, wieder hinzuziehen. Es ist eine eine besondere Verbundenheit, die ich mit dem Viertel immer noch habe. Das ist meine Heimat.

ARD, 9. März, 22:45 Uhr: Tod einer Richterin

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