Folge elf geht schlecht los für Trixi und endet kaum besser. Heidi Klum hat erklärt, die Mädchen seien inzwischen zwölf Wochen von ihren Liebsten getrennt. Deshalb wurden sie nun eingeflogen: der Freund von Julianna, die Mutter von Klaudia, die beste Freundin von Christina. Großes Hallo in der Modelwohnung in den Bergen von Los Angeles, einzig für Trixi ist kein Besuch gekommen. Sie wird viel weinen in dieser Folge - als die anderen acht Kandidatinnen ihre Liebsten herzen und knutschen, als sie beim Videodreh ihren Text vergisst, als Heidi Klum sie am Ende aus der Sendung wirft, obwohl sie ihr in den vergangenen Wochen sehr ans Herz gewachsen sei: "Aber es geht hier nicht um Sympathie, sondern es geht um Leistung."
Trixi hätte gewarnt sein können. Vor zwei Jahren saß Fata ähnlich bedröppelt in der Runde, weil weder ihre Mutter noch ihr Freund mit ihren bosnischen Pässen in die USA einreisen durften. Die Kommentatoren im Internet gossen kübelweise Spott über sie aus. Gewarnt hätten auch alle anderen Mädchen sein können: Seit 13 Jahren stellt Heidi Klum ihre wechselnde Mädchenschar vor die immer gleichen Aufgaben, die sie vorgeblich auf einen Beruf vorbereiten, den sie nie ausüben werden. Im Finale am kommenden Donnerstag wird wieder eine "Germany's Next Topmodel" werden. Aber Topmodel ist bisher keine geworden.
Seit der ersten Folge beteuern echte Models, das Fernsehformat habe reichlich wenig mit ihrem Alltag zu tun. Und so taugen Klums wiederkehrende Praxisübungen kaum als Jobtraining: das "Shooting in extremen Höhen", mal im Heißluftballon, mal auf einem Hochhaus, das Unterwasser-Shooting, gern auch mit Haifisch im Becken, ein Ekel-Shooting mit Spinne oder Ratte auf der Schulter.
100 Folgen sind auf der GNTM-Webseite anzusehen, das Archiv geht zurück bis ins Jahr 2009 - offenbar reichte das nicht als Warnung für die Modelanwärterinnen, dass sie aus der Show nicht ohne Beschädigung hervorgehen würden. Dabei dokumentiert jede einzelne Folge mehr oder weniger drastisch, worum es bei Germany's Next Topmodel geht: die Mädchen öffentlich vorzuführen und zu demütigen. Viel Sendezeit erhalten die Mädchen, die besonders hysterisch kreischen, wenn Klum sie mit ein paar gesponserten Klamotten oder Beauty-Produkten beglückt oder gar zur Aids-Gala nach New York mitnimmt. Noch ausführlicher wendet sich die Sendung den Mädchen zu, die unter der Last der gestellten Aufgabe förmlich zusammenbrechen, weil sie ihre Höhenangst, ihre Wasserscheu oder ihren Ekel vor Ratten nicht überwinden können. Gerade in den zerbrechlichsten Momenten ist ihnen die Kamera ganz nah.
Doch diese Shows bieten die unwiderstehlichste aller Drogen: Aufmerksamkeit
Wie kommt es, dass sich immer noch Tausende Mädchen für diese Zumutung bewerben? Warum lassen sich die Kandidatinnen all das bieten? Es sind ja größtenteils Schülerinnen, Abiturientinnen, Studentinnen, die vom Leben mehr zu erwarten hätten als ein Foto von Heidi, das sie in die nächste Runde bringt. Soziologen haben festgestellt, dass den Jugendlichen die Schattenseiten der Castingshows wohl bewusst sind. Aber dafür bieten sie etwas, wonach diese Generation angeblich verlangt wie keine zuvor: Aufmerksamkeit. Der Wiener Kulturtheoretiker Georg Franck konstatiert, die Aufmerksamkeit anderer Menschen sei in unserer zunehmend digitalisierten Welt "die unwiderstehlichste aller Drogen".
GNTM auf ProSieben:Heidi Klum ist nicht das Problem
Running Sushi mit Mädchen, Nacktbilder am Strand: "Germany's Next Topmodel" startet zackig in die 13. Runde, der #metoo-Debatte zum Trotz.
In den Genuss dieser Droge kommt auch Trixi, im Gegenzug für ihre Tränen aus Folge elf. Wieder und wieder schluchzt sie in die Kamera, wie hart diese Tage für sie sind. Am nächsten Tag schreibt die Bild-Zeitung, Trixi dürfe nun den Titel "Germany's Next Heulsuse" tragen. Eher nicht die Art der Aufmerksamkeit, die sich ein 18-jähriges Mädchen erhofft.
Doch was ist mit den mehr als zwei Millionen Zuschauern: Warum schenken sie dem Treiben nach 13 Jahren immer noch ihre Aufmerksamkeit? Die Einschaltquoten sinken zwar, aber auch im Jahr 2018 kann Pro Sieben nach fast jeder Sendung vermelden, man habe mit Germany's Next Topmodel auch diesen Donnerstag wieder die Primetime gewonnen. Warum finden die Zuschauer diese Sendung unterhaltsam, warum haben sie es je getan?
Die meisten sind übrigens Frauen. "Frauen", schrieb Klum in ihrem Ratgeberbüchlein Natürlich erfolgreich, "bereitet es besonders viel Vergnügen, toll auszusehen. Es macht uns frei, körperbetonte Outfits zu tragen, wir ziehen dadurch mehr Männerblicke auf uns; und dass wir uns sexyer fühlen, bewirkt, dass wir uns stärker fühlen." Das Büchlein erschien 2004. Dass Klum seitdem dazugelernt hätte, ist nicht erkennbar. Auch dieses Jahr ließ sie ihre noch nicht oder gerade volljährigen Kandidatinnen wieder in Reizwäsche und kniehohen Lackstiefeln posieren sowie im Bikini unter einer auf einem Lkw-Anhänger durch Hollywood geschleppten Dusche.
Die Männerblicke waren den Mädchen sicher, und sie durften sich stärker fühlen, wie Klum es in ihrem Buch formuliert hatte, aber nur für kurze Zeit. Dann setzte sie Klum einer Bunte-Redakteurin aus, Thema: "Umgang mit sozialen Medien". Die Frau hielt den Kandidatinnen aus ihrer Sicht bedenkliche Bilder unter die Nase, die sie von ihnen gefunden hatte ("Findest du so was in Ordnung?"). Die 17-jährige Sally sah sich genötigt, vor laufender Kamera zu gestehen, dass Oben-ohne-Fotos von ihr im Internet kursieren. "Das Netz vergisst nie", erklärte Klum daraufhin und vergaß in ihrer Besorgnis, dass fester Bestandteil ihrer Show ein Nacktshooting ist und sie selbst gerade ein Selfie von sich auf Instagram gepostet hatte, das vor allem ihren blanken Hintern zeigt.
Doch egal, wie widersprüchlich und bigott die Meisterin daherkommt, die Lehrlinge "fragen nicht nach, verlangen keine Begründungen, kennen keine Kritik nach oben", beobachtete die Marburger Soziologin Ulrike Prokop. Die Professionalität, die Klum wieder und wieder von den Mädchen fordert, bedeute vor allem "Mund halten und parieren". Sexy und devot sollen sie sein, die angehenden Models.
Die Zögerlichen fordert Klum auf, verführerischer zu posieren, "heiß, heiß, heiß" zu sein
Natürlich hat auch Klum den Fall Weinstein mitbekommen. "Ich glaube, man findet kaum eine Frau - mich selbst eingeschlossen", sagte sie vor einigen Monaten, "die nicht schon mal ein Erlebnis hatte, bei dem sie sich eingeschüchtert oder bedroht gefühlt hat von einem Mann, der seine Macht, Position oder seine körperliche Überlegenheit ausgenutzt hat." Ob sie auf die Idee kommt, dass sich auch die eine oder andere GNTM-Kandidatin eingeschüchtert fühlen könnte - von Klums Macht und Position? Und erst recht von der Gesamtkonzeption ihrer Sendung, dieser eigenartigen Mischung aus Glitzerwelt, Zwangsinstitution und Jungmädchensexualität.
Vor acht Jahren wurden die Missbrauchsfälle an katholischen Internaten und der Odenwaldschule bekannt. Als besonders perfide blieb in Erinnerung, wie sich die Täter die meist minderjährigen Opfer gefügig gemacht hatten: indem sie die Schamgrenzen mehr und mehr verschoben. Nackt duschen mit dem Erzieher, nackt schwimmen mit dem Pater? "Wo ist das Problem? Jetzt stell dich nicht so an!" Mit solchen Sätzen trieben die Täter ihre zögernden Opfer in die Enge, nutzten das institutionalisierte Machtgefälle schamlos aus.
Klum geht nicht viel anders vor, wenn sie allzu zögerliche Mädchen auffordert, doch mehr aus sich herauszugehen, verführerischer zu posieren, "heiß, heiß, heiß" zu sein. Was haben die Mädchen schon entgegenzusetzen, wenn Klum mit ihren 25 Jahren Business-Erfahrung behauptet, die Kunden wollten das nun mal so? Sie ist die unangefochtene Herrscherin im Modelcamp und missbraucht ihre Macht, wie nur sie das tun kann. Wenn ein männlicher Moderator junge Mädchen auf diese Weise anfeuern würde - Mach mal sexy! Mach uns die Raubkatze! Ich will Beine sehen! - hätte das höchstwahrscheinlich einen großen öffentlichen Aufschrei zur Folge.
GNTM ist sicher nicht das einzige übergriffige Sendeformat im Privatfernsehen, aber im Dschungelcamp werden wenigstens Erwachsene vorgeführt - und zwar gegen eine fünf- bis sechsstellige Gage. Bei Germany's Next Topmodel profitieren vor allem Heidi Klum und der Sender. Auch die Online-Ableger von Bild, Bunte, Stern sind Teil der Verwertungskette. Nach jeder Sendung berichten sie über vermeintliche Schwächen und Peinlichkeiten der Mädchen. Bereitwillig übernehmen sie die von den Produzenten ausgearbeiteten kleinen Geschichten, die durch geschickte Auswahl des Sendematerials jeder Kandidatin ein Image verpassen: die Zicke, die Heulsuse, die Eiskalte. Ausführlich wird dann diskutiert, wie sehr Kandidatin X nervt und wann sie wohl endlich aus der Sendung fliegt. Die Berichterstattung problematisiert nicht ansatzweise, wie zynisch und ausbeuterisch das Format ist, sondern suggeriert, es handle sich um normale Unterhaltung, um ein irgendwie niedliches Rennen von "Model-Pferdchen", wie die Brigitte einmal nahelegte.
Von Soziologen befragte Gymnasiastinnen sehen in Klum "eine gute Unterstützerin"
Auch Klum erweckt diesen Eindruck und inszeniert sich, wenn es gerade passt, gern auch als beste Freundin der Mädchen. Beim Shooting auf dem Trampolin in praller Hitze mahnt sie, doch eine Pause zu machen. "Die Gesundheit der Mädchen geht schließlich vor." Bei Pia, die vor dem Shooting unter der Dusche auf dem Lkw-Anhänger über Schüttelfrost klagt, tastet sie mit besorgter Miene die Stirn ab. Die Mädchen, denen sie am Ende jeder Sendung den Laufpass gibt, schließt sie anschließend tröstend in ihre Arme.
Das verfängt, gerade bei Jüngeren. Im Rahmen von Forschungsseminaren interviewten Studenten der Soziologin Ulrike Prokop 14- bis 17-jährige Mädchen, eine wesentliche Zuschauergruppe von GNTM. Gymnasiastinnen aus der 11. Klasse schwärmten "von Heidi Klum und ihrer Natürlichkeit" und hoben hervor, dass sie "den jungen Frauen Selbstvertrauen gebe, dass sie eine gute Unterstützerin sei". Schließlich ermöglicht sie ihnen ein großes Abenteuer: Reisen in die Karibik, nach New York und Los Angeles. Wer ausscheidet, muss selbst schuld sein. Überhaupt: Wird doch niemand gezwungen, mitzumachen bei Germany's Next Topmodel.
Ist die Faszination dieser Traumwelt also nicht zu brechen? Müssen Eltern hilflos zusehen, wie die Tochter ihr erliegt? Nicht unbedingt. Für Prokops Untersuchung wurden auch Pädagogikstudentinnen befragt. Deren Urteil zu Klum und ihrer Sendung war eindeutig: autoritär und sexistisch. Eine Erkenntnis, für die es eigentlich kein (Pädagogik-)Studium brauchen sollte.