Gauck-Berichterstattung bei ARD und ZDF:Quoten-Krimi statt Polit-Information

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Der quasi staatliche Rundfunk behauptet gerne Informationskompetenz - und sendet dann doch Schema F, wenn es ein innenpolitisch einmaliges Ereignis gibt. Reicht das für ein mit fast acht Milliarden Euro versorgtes Gebühren-Rundfunks-System aus, das sich gerade in der politischen Berichterstattung vom Kommerz-TV unterscheiden muss?

Christopher Keil

Auch Jörg Schönenborn war erfasst von der Dynamik, mit der sich die Diskussion um den Nachfolger Christian Wulffs schon am Sonntagmittag zur schwersten Auseinandersetzung der Regierungskoalition gesteigert hatte. Die FDP blockierte alle Kandidaten, die von der Union eingebracht wurden. Töpfer, Huber, Roth? Keiner passte den Liberalen, "Der Nächste, bitte! Was kommt nach Wulff?", lautete sinnigerweise das Thema im Pressecl ub, den Schönenborn als Chefredakteur des Westdeutschen Rundfunks (WDR) Punkt 12 Uhr leiten würde.

Um 20.37 Uhr vermeldete die ARD während des Polizeirufs mit einem Banner, dass Gauck der neue Präsident werden solle. Zu einer Unterbrechung konnte man sich nicht durchringen. (Foto: ARD)

Entgegen der sonstigen Bitte, die mobilen Telefone im Studio abzuschalten, bat der Moderator die Journalisten der Runde jetzt ausdrücklich, auf Empfang zu bleiben. Die aktuelle Entwicklung sollte nicht am Presseclub vorbeiziehen. Es könnte ja eines der Smartphones klingeln, summen oder blinken und vom neusten Stand der Dinge künden. Das wäre dann live-live gewesen und dem Anlass gerecht geworden.

Auch im zuweilen plauderlaunigen Presseclub gab es an diesem Sonntag besonders Wichtiges zu besprechen. Noch nie trat ein Bundespräsident vom Amt zurück, um sich anschließend staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen stellen zu müssen. Und Bundeskanzlerin Merkel war in der Klemme: Entweder sie kündigt die Koalition auf oder unterstützt Joachim Gauck, für den sich die FDP am frühen Nachmittag aussprechen sollte.

An so einem Tag hätte man sich noch vieles anders vorstellen können in den Programmen von ARD und ZDF, den öffentlich-rechtlichen Anstalten, die in jeder Debatte über den Wert eines quasi staatlichen Rundfunks mit ihrer Informationskompetenz aufschlagen. Obwohl das eine oder andere tatsächlich anders war.

So brachte das ZDF um 18 Uhr ein Spezial aus Berlin zur "Präsidentenkrise". Nach Heute um 19 Uhr gab es bis 20.15 Uhr ein Maybrit Illner Spezial ("Wulffs Rücktritt - Wer traut sich jetzt noch Präsident?"). Die ARD beließ es bei ihrem gewöhnlichen Bericht aus Berlin um 18.30 Uhr und der Tagesschau um 20 Uhr, in der Reporter Rainald Becker noch äußerte: "Für die Union bleibt Gauck nach wie vor nicht wählbar." Doch als gegen 20.30 Uhr bekannt wurde, dass Gauck wählbar wurde für die Union wie zuvor für die FDP, die SPD und die Grünen, lief im ZDF Sommermond, eine Inga-Lindström-Schnulze, und im Ersten gab es den Polizeiruf 110.

"Den Film zu unterbrechen, wäre nicht richtig gewesen"

Das war also in der Hauptsendezeit, in der ARD und ZDF sonntags mit Krimi und Melodrama Quote machen, Fernsehen nach Schema F. Nur ein News-Ticker, der unten durchs Bild schlich, verwies auf die Entwicklung und die nachfolgenden Nachrichten, das Heute-Journal und die Tagesthemen, die später alles umfassend darstellen sollten.

Reicht das für ein mit fast acht Milliarden Euro versorgtes Gebühren-Rundfunks-System aus, das sich gerade in der politischen Berichterstattung vom Kommerz-TV unterscheiden muss?

Peter Frey, der Chefredakteur des ZDF, sagte an diesem Montag: "Dass Gauck abends noch vorgestellt werden würde, wusste er selber nicht. Er saß im Taxi, als ihn die Bundeskanzlerin anrief. Das heißt, wir wussten das um 20.15 Uhr auch nicht. Wenn wir es gewusst hätten, wäre es eine Überlegung gewesen, das Maybrit Illner Spezial zu verlängern und den Sender aufzumachen."

Mit "aufmachen" meint Frey eine Verlängerung der Übertragungen, Interviews, Analysen aus Berlin, wo Angela Merkel, Gauck und alle anderen Parteispitzen mit Ausnahme der Linken um 21.15 Uhr vor die Kameras traten. Inga Lindström wäre entweder in den späten Abend oder auf einen anderen Sendetag verschoben worden. "Den Film zu unterbrechen, wäre nicht richtig gewesen", sagte Frey. "Man muss auch an solchen Tagen die Gewohnheiten der Zuschauer berücksichtigen. Ich glaube, wir haben uns nichts vorzuwerfen."

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Dass der Spielfilm nicht unterbrochen wurde, wie das sicher bei einer Katastrophe vom Ausmaß des 11. September 2001 der Fall gewesen wäre, ist aus Fernsehmanagersicht nachvollziehbar. Doch mit den Gewohnheiten der Zuschauer zu argumentieren, ist auch gefährlich, denn die Gewohnheiten werden mittlerweile regelmäßig gebrochen, am auffälligsten bei Sportübertragungen. Und sind es nicht immer "solche" Tage, an denen etwas passiert, das man sich intensiver bei ARD oder ZDF ausgebreitet wünscht? War dieser Sonntag nicht der Tag, an dem die abstrakte Politik sehr persönlich und damit auch einmal anders erklärbar wurde als über Geldmärkte, Stabilitätsfaktoren oder Bundestagsdebatten?

Als Judith Rakers die Tagesschau moderierte, wusste auch sie noch nichts von der Entscheidung für Gauck. Ahnen konnte man es indes schon. (Foto: ARD)

Der Hinweis, dass Phoenix seit Freitag mehr als 40 Stunden über den Rücktritt Wulffs und die Nominierung Gaucks berichtet habe, führt zu einer interessanten Wahrnehmungsveränderung. Intendanten legen sich inzwischen das, was ARD oder ZDF sind und sein sollen, breit zurecht. Die Digitalisierung brachte den Öffentlich-Rechtlichen weitere Plattformen wie Phoenix, der als "Ereigniskanal" im Rundfunkstaatsvertrag beschrieben ist.

Die Kontroverse um Gauck ist ein innenpolitisch einmaliges "Ereignis" gewesen, insofern bei Phoenix gut aufgehoben. Andererseits beweist doch der Erfolg (bis zu fünf Prozent Marktanteil), den der Minisender mit den Konflikten um Wulff und Gauck an diesem Montag reklamierte, dass die Menschen sich interessierten. Und die meisten Menschen erreichen ARD und ZDF wie früher mit ihren Hauptprogrammen.

Kein Programmdirektor käme auf die Idee, ein Fußball-Länderspiel in den Ereigniskanal Phoenix auszulagern. Ganz leicht fällt es ihm dafür, Sendezeit, die mit politischen Inhalten gefüllt werden, bei Phoenix unterzubringen. Der Grund - abgesehen davon, dass ARD und ZDF keinen Sportkanal haben dürfen - ist in beide Fällen die kalkulierte Zuschauerbeteiligung. An einem Fußball-Länderspiel ist jeder interessiert, für eine spontane Pressekonferenz mit der Bundeskanzlerin und dem künftigen Bundespräsidenten während des Polizeirufs hätte wohl nicht einmal jeder Zweite Interesse. Funktioniert so TV-Journalismus?

"Mit dem, was wir gesendet haben, bin ich völlig im Reinen"

An diesem Sonntag waren das ZDF wie auch die ARD in einer für sie unbequemen Lage. Die späte Bekanntgabe der Festlegung auf Gauck als nächsten Bundespräsidenten hat ihre Redaktionen wie alle anderen überrascht. WDR-Mann Schönenborn erklärte an diesem Montag: "Wir sind davon ausgegangen, dass das entscheidende Zeitfenster zwischen 18 und 20 Uhr liegt. Wie waren darauf vorbereitet, jederzeit das Programm zu unterbrechen, ob Sportschau, Lindenstraße oder Weltspi egel.

Als dann die Einladung an SPD und Grüne verschoben wurde, haben wir nicht mehr mit einer schnellen Entscheidung gerechnet. Deshalb gab es für mich keinen Anlass, die Tagesschau zu verlängern oder einen Brennpunkt zu planen. Als um halb neun doch der Name kam, hat mich das überrascht. Klar, wenn ich das vorher gewusst hätte, hätten wir natürlich einen Brennpunkt gemacht. So haben wir das getan, was wir sinnvollerweise tun konnten. Mit dem, was wir gesendet haben, bin ich völlig im Reinen."

Völlig im Reinen? Müsste man sich nicht als verantwortlicher Journalist bei ARD und ZDF ärgern, dass nicht schon um 20.15 Uhr Klarheit über Gauck herrschte? Nicht einmal für eine Sekunde dachten die Chefredakteure Frey und Schönenborn offenbar daran, jedenfalls vermittelten sie nicht den Eindruck, ganz einfach doch aus der Schnulze oder dem Krimi auszusteigen, um den vielen Millionen Deutschen kurz aktuell zu erklären, wer da und auf welche Weise ihr neues Staatsoberhaupt wird.

Dabei hatte alles bei ARD und ZDF Anfang Januar begonnen, mit einem Interview, das Christian Wulff exklusiv, planbar und sendezeitgerecht um 20.15 Uhr gegeben hatte.

© SZ vom 21.02.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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