WM in Russland:"Wir müssen als Fußball-Konsumenten einfach aussteigen"

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Blick auf die Seite der deutschen Nationalmannschaft im Panini-Stickeralbum zur Fußball-Weltmeisterschaft. (Foto: dpa; Bearbeitung SZ)

Die deutsche Nationalmannschaft spielt und niemand schaltet ein. Das wünscht sich der Schriftsteller Ilija Trojanow - er fordert einen Zuschauer-Boykott der WM.

Interview von Kathleen Hildebrand

Die WM ist eröffnet, das erste Spiel vorbei, und die Sucht nach der täglichen Fußballdosis dürfte bei vielen schon eingesetzt haben. Doch der Schriftsteller Ilija Trojanow widersetzt sich dem Drang, den Fernseher anzuschalten. "Boykottieren wir die WM 2018 in Russland! Schauen wir uns kein einziges Match an!" Das fordert er im "Manifest wider die Sportdiktatur", das er zusammen mit dem Fußball-Theoretiker Klaus Zeyringer in dem kleinen fußballkritischen Suhrkamp-Band "Das wunde Leder - Wie Kommerz und Korruption den Fußball kaputt machen" veröffentlicht hat.

SZ: Herr Trojanow, am Sonntag spielt die deutsche Nationalmannschaft ihr erstes WM-Spiel - und Sie schalten den Fernseher ganz bewusst nicht ein. Warum?

Ilija Trojanow: Der internationale Sport ist völlig korrumpiert und die Fußball-WM ist in diesem System nunmal das größte Ereignis. Die Kommerzialität, die kritiklose Zusammenarbeit mit totalitären Systemen, die Ausbeutung von Menschen, siehe die Arbeiter in Katar, die nationalistische Instrumentalisierung, siehe Sotschi, haben ein unerträgliches Niveau erreicht. Ich finde, gerade Sportfans - und ich zähle da unbedingt dazu - müssten das einzige Zeichen setzen, das überhaupt in einer durchökonomisierten Welt noch Wirkung zeitigen kann. Wir müssen als Fußball-Konsumenten einfach aussteigen. Dann würde diese gigantische Geldmaschinerie zusammenkrachen, denn die funktioniert ja nur auf dem Rücken unserer Leichtgläubigkeit und unserer Treue.

Fällt Ihnen das schwer?

Nein, bislang gar nicht. Ich habe versucht, mich zu erinnern, welche Spiele ich bei der vergangenen EM so toll fand, dass ich im Nachhinein gesagt hätte: Das hätte ich ungern verpasst. Und ehrlich gesagt ist mir so gut wie gar kein Spiel eingefallen. Mir ist aber eingefallen, dass ich unglaublich viele Stunden irgendwo saß und gegafft habe. Durch die Aufblähung dieser Veranstaltung mit immer mehr Spielen haben wir es mit einer enormen Übersättigung zu tun, was absolut typisch ist im neoliberalen Kapitalismus, der ja versucht, alle leeren Räume zu füllen. Die Erregung, die ich als Kind empfunden habe, als man sich wochenlang auf ein Spiel gefreut hat, die ist weg. Abgesehen von den ganzen Skandalen um die Fifa führt auch diese ständige Verfügbarkeit zu einer emotionalen Entwertung des einzelnen Spiels.

Zu EM- und WM-Zeiten sind plötzlich auch Leute süchtig nach Fußball-Übertragungen, die sonst nie ein Spiel schauen. Wie erklären Sie sich das?

Ich glaube, es gibt zwei Typen von Sportbegeisterten. Mein persönlicher Eindruck ist, dass eingefleischte Sportfans sich inzwischen lieber ein gutes Spiel der zweiten Liga anschauen, das nicht von Ausstrahlungs- und Werberechten in der ganzen Welt getragen ist. Weil sie dort den wahren Geist des Sports finden, den sie lieben. Und die anderen, die Trittbrettfans, werden gerade angezogen von der Tatsache, dass eine Meisterschaft ein gesamtgesellschaftliches Ereignis ist. Eines, das fast allen zur Verfügung steht. Und daran wollen sie teilhaben, weil das in einer atomisierten Gesellschaft selten geworden ist.

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Nach den Doping-Skandalen im Radsport brachen tatsächlich die Quoten ein, wurden Übertragungen ausgesetzt. Warum ist das trotz der Korruption im Fußball anders?

Dafür ist der Nationalismus, der sich seit der WM in Deutschland doch kontinuierlich intensiviert hat, sicherlich ein wichtiges Moment. Da kommen alte Muster von nationaler Identität wieder hoch, von Ruhm und Ehre. Und die Ersatzbefriedigung der Massenextasen, wenn Deutschland gewinnt, spielt natürlich eine ganz große Rolle. Im Radsport treten von Firmen getragene Mannschaften gegeneinander an - da identifiziert man sich nicht so leicht.

Würden Sie sich wünschen, dass auch Politiker die WM in Russland boykottieren, indem sie nicht anreisen? Oder sollten sie den WM-Besuch nutzen, um zum Beispiel mit Menschenrechtsakivisten zu reden?

Punktuelle Boykotte halte ich für Symbolpolitik ohne jegliche Wirkung. Denn leider sind die meisten Politiker ja nur mit Realpolitik beschäftigt und nicht mit Visionen. Ein Realpolitiker muss natürlich mit jedem reden. Da fände ich es ein bisschen blauäugig zu sagen: Wir brauchen zwar das Gas aus Russland, aber jetzt bei der WM werden wir ihnen eine lange Nase ziehen. Wenn aber ein Politiker eine Vision hätte - zum Beispiel, den Sport zu befreien von diesen beiden fatalen Parasiten, die da heißen Kommerz und Politik -, dann hätte so ein Boykott eine Stimmigkeit.

Vermissen Sie auch bei den Fußballspielern politische Haltung?

In einer Mannschaftssportart ist man sehr vielen anderen verpflichtet, man kann wenig autonom entscheiden und Gängelverträge mit Sponsoren machen die Spieler quasi mundtot. Ein Protest hieße, die ganze Karriere in Gefahr zu bringen. Meines Erachtens ist das nicht zu viel verlangt, aber erfahrungsgemäß sind dazu nur wenige Menschen bereit. Aber es ist auch unfair, da nur die Sportler in die Verantwortung zu nehmen. Man könnte ja genauso gut fragen, wieso es nicht mehr Whistleblower bei Daimler, Audi und VW gibt, trotz eines massenhaften Betrugs an der Bevölkerung. Oder in den Großkonzernen, die unsere Ozeane und Böden verschmutzen. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, dass uns Zivilcourage fehlt.

Was werden Sie am Sonntagabend machen, statt Fußball zu gucken?

Sonntagabend bin ich in Sofia und werde mich mit meinem Onkel zusammensetzen und über Gott und die Welt reden. Für die Zeit der WM habe ich ganz viele schöne Pläne. Zum Beispiel habe ich mir Restaurants ausgesucht, wo ich immer schon mal essen gehen wollte. Man bekommt leicht einen Platz. Es hat viele Vorteile, wenn man gegen den Strom schwimmt.

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