Süddeutsche Zeitung

Fußball-Magazin:Die Schönheit der Erschöpfung

Wie das dramatische WM-Halbfinale vom 17. Juni 1970 in Mexiko nun ein halbes Jahrhundert später ein Magazin von hundert Seiten füllt.

Von Holger Gertz

Es ist eine schöne Pointe der Geschichte, dass ausgerechnet in der Epoche der Geisterspiele eine Begegnung ihr goldenes Jubiläum feiert, die der Gegenentwurf jedes Geisterspiels ist. Derzeit ist kein zahlender Zuschauer im Stadion zugelassen, aber auf den Tag genau vor fünfzig Jahren waren alle da, 102 444 Menschen sahen im Aztekenstadion von Mexiko-Stadt das Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft 1970. Jene WM ist in die Geschichte eingegangen als spektakulärstes Weltturnier aller Zeiten, was auch an diesem Spiel lag, 4:3 nach Verlängerung gewann Italien gegen Deutschland. Ein Kampfspiel in der Hitze Mexikos; ein Drama vor mehrgeschossigen Tribünen. Die Spieler gingen bis an die Grenze ihrer Kraft und darüber hinaus, was man noch immer gut erkennen kann, in den Filmsequenzen von damals. Am Ende ist das Jahrhundertspiel doch ein Geisterspiel, da schleichen alle wie erschöpfte Gespenster über den Platz.

Diese Bilder: Zur Legende geworden ist das Jahrhundertspiel, weil es Heldenbilder geliefert hat, die auch noch live und in Farbe per Satellit in die Welt hinausgesendet wurden. Die WM 1970 markiert den Moment, an dem der Fußball zum Fernsehsport wurde und das Fußballbusiness zur Bildmaschine. "Damals stellte das P1 als erstes Lokal in München für die Fußball-WM in Mexiko einen Fernseher für seine Gäste auf", schrieb später die tz. Die Eindrücke, die die Fernseh-und Fotokameras damals einfingen, haben sich nicht verflüchtigt, sondern sind geblieben, jeder hat sie schon mal gesehen, in einem Rückblick, einem Bildband. Vor Spielbeginn die Begegnung der Kapitäne Giacinto Facchetti und Uwe Seeler, sie tauschen Wimpel von enormer Größe. Danach: Beckenbauers Schulterverletzung, sein lädierter Arm mit Leukoplast am Körper festgebunden. Die Werbebanden im Aztekenstadion, Cinzano, Alka-Seltzer, Brandy Presidente. Gerd Müllers zerwuscheltes Haar, direkt nach dem Kopfball zum 3:3.

Dem Spiel der Spiele ein Denkmal gesetzt hat der Journalist und Medienpionier Oliver Wurm, für den der Slogan "Print lebt" viel mehr ist als eine Durchhalteparole. Wurm, ganz früher mal Redakteur bei Sport-Bild, produziert längst Panini-Sammelalben für Städte und Bundesländer, er hat - ein Überraschungshit - das Grundgesetz als Magazin an die Kioske gebracht und widmet sich im Rahmen der Reihe "Fußball Gold" nennenswerten Phänomenen des Betriebs. Es gibt ein 72-Seiten-Magazin über Maskottchen der Fußballvereine, es gibt auch Themenhefte zu Ehren großer Matches. "Mehr als ein Spiel" heißt die soeben erschienene Ausgabe über das Jahrhundertspiel, Facchetti und Seeler sind auf dem Umschlag, hinter ihnen der Schiedsrichter Yamasaki. Jener Referee, über den der Schriftsteller Ror Wolf später schreiben sollte: "Als Seeler blutet, bleibt die Pfeife stumm/Das hat man Yamasaki zu verdanken."

Das Werk enthält alle bekannten (und auch viele unbekannte Bilder), es umkreist das altbekannte Spiel und findet tatsächlich neue Ansatzpunkte. Dass nämlich die deutsche Nationalmannschaft - bestückt mit den treudeutschen Namen Müller, Maier, Schulz - bis heute mit so viel Wärme gesehen wird, hatte mit dieser unglücklichen Niederlage zu tun, dem Verlierer fühlt man sich näher als dem Sieger. Aber aus heutiger Sicht, so analysiert der langjährige Sportjournalist Bernd Linnhoff, ist auch die relative Langsamkeit des Fußballs von damals kein Makel, im Gegenteil. Der Hochgeschwindigkeitsfußball der Gegenwart ist perfekt und wie alles Perfekte auch kalt. Schönheit aber, analysiert Linnhoff, "kann aus Ordnung entstehen, aber auch aus dem Chaos oder gar der Erschöpfung."

Den Italienern ist das Spiel offenbar genauso tief in Erinnerung geblieben, ein Sieg gegen Deutschland ist ja nie nur ein Sieg gegen Deutschland. Aber auch, wenn man das Spiel nicht politisch überhöht - für das Fußballland Italien war dieses 4:3 wie eine Wiederauferstehung, bei der WM zuvor hatten sie noch gegen Nordkorea verloren. So verbinden sich im Geburtstagsheft die spielerischen mit den nachhaltigen Elementen, und manchmal klingt heute etwas schwerer, was früher leichter überhört wurde. Die Original-Hörfunkreportage von Kurt Brumme ist in Teilen nachgedruckt, mit dem Abstand von fünfzig Jahren kann man sagen: Nein, Ehrenitaliener wäre Brumme nicht geworden mit diesen Kommentaren: "Da liegt wieder einer am Boden. Burgnich ist soeben verstorben, sehe ich. Aber nein, er steht auf, er steht auf - weil der Ball hereinkommt." Oder: "Pfui, pfui, pfui Rivera! Pfui Rivera! Voll nietet und nagelt er den deutschen Spieler um."

Wenn man die richtigen Ideen hat, füllt ein Fußballspiel noch fünfzig Jahre später ein Magazin von hundert Seiten. Das Fazit gehört noch mal Ror Wolf: "Das war ein Drama allererster Sorte/Hier schweige ich. Es fehlen mir die Worte."

Und damit zurück zu den Geisterspielen.

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